20 Mrz

Der Corona-Staat oder: Politische Autorität in Zeiten der Pandemie

Von Andreas Wolkenstein und Johannes Kögel (München)

Man kommt nicht umhin angesichts der gegenwärtigen Pandemie und der zu ihrer Bekämpfung ins Leben gerufenen Maßnahmen Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ (1993) aus dem Bücherregal hervorzuziehen. Foucault beschreibt die von der Pest bedrohte Stadt des 17. Jahrhunderts: Es herrscht striktes Ausgangsverbot, die Stadtgrenzen wurden dicht gemacht, die gesamte Stadt steht unter Quarantäne. Unvermeidbare Freigänge werden so koordiniert, dass man sich dabei nicht begegnet. Der Stadtraum wird in Zellen unterteilt, deren Straßen und Plätze von offiziellen Wächtern patrouilliert und überwacht werden. Namen und Adressen der Bewohner werden erfasst, Fälle (Infektions- und Todesfälle) werden protokolliert und systematisiert.

Die Parallelen – wenn auch (noch) nicht im selben Ausmaß – zur gegenwärtigen Situation sind offensichtlich. Viele Länder haben bereits das Ausgangsverbot verhängt. In Deutschland wird damit bisher nur gedroht. Die Grenzen werden abgeriegelt. Verstöße gegen individuelle Quarantäneauflagen werden geahndet. Der Staat nutzt die Daten von Mobilfunkanbietern, um Bewegungsmuster von Handynutzern auswerten zu können. In manchen Ländern wird per Handy sogar die Quarantäne von Individuen überwacht. Das Gemeinwohl rechtfertigt gerade viele Maßnahmen.

Für Foucault war „die verpestete Stadt“ gleichzeitig Sinnbild eines politischen Traums, dem der „vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft“ als Gegenstand einer umfassenden Disziplinierungsmacht. Die verpestete Stadt ist heute der Corona-Staat.

Giorgio Agamben, der die Biopolitik Foucaults weiterentwickelt, erklärt den Ausnahmezustand zum neuen Regierungsparadigma, worin durch den totalen Zugriff auf das Individuum dieses zum „nackten“ oder „bloßen“ Leben reduziert wird. Im Moment muss er wie ein Prophet erscheinen. Waren seine Ausführungen in Bezug auf die Post-9/11-Maßnahmen nachvollziehbar, klingen seine jüngsten Zeitdiagnosen angesichts der Lage in Italien sehr zynisch. Tatsächlich geht es im Moment in erster Linie um das Überleben einer großen Minderheit auf Kosten der Freiheit vieler – Kosten, die zwar so hoch sind, dass sie möglicherweise weh tun, die aber im Verhältnis zu den geretteten Leben gering scheinen. Und auch angesichts von überarbeiteten Krankenhausmitarbeiter*innen und entnervten Supermarktkassierer*innen machen die Bilder von unbedarften Zusammenkünften und Corona-Partys fassungslos.

Gleichzeitig kann man damit rechnen, dass Post-Corona-Maßnahmen und -Gesetze Geltungsansprüche zeitigen werden, welche vorher als undenkbar galten. Und damit Agamben nicht Recht behalten und der Ausnahmezustand zum Normalzustand wird, wollen wir nicht unseren kritischen Blick auf die Politik verlieren und einmal die politische Autorität, die Corona ermöglicht hat, betrachten.

Die „Solidarität“ der „Krisenhelden“

Im Moment gilt etwa der bayerische Ministerpräsident Markus Söder als einer der Krisenhelden: Er schließt Geschäfte, Schulen, Spielplätze. Kein Kino, kein Tierpark, kein Schwimmbad darf in der nächsten Zeit mehr Besucher willkommen heißen. Wir müssten jetzt „zusammenstehen“, betont Söder immer wieder, Solidarität zeigen. Corona sei nicht nur Stresstest für die Gesellschaft, sondern auch ein „Charaktertest“. Selbst wenn, so Söder bei der Pressekonferenz am 16. März sinngemäß, bestimmt nicht alles bestens laufe, sei jetzt nicht die Zeit zu kritisieren, sondern zusammenzuhalten. In der Öffentlichkeit, so scheint es, bekommt er dafür viel Zustimmung. Einen starken Mann wünschen sich sowieso viele Menschen. Jetzt, in der Krisenzeit, erst recht. Und Söder erfüllt diesen Wunsch. Diese Beobachtung trifft freilich nicht nur auf Söder zu. Überall tun sich die starken Krisenmanager*innen hervor und werden dafür landauf, landab gelobt.

Wir möchten im Folgenden auf zwei Problematiken hinweisen, die wir im Zuge dieser politischen Reaktion auf Corona als nicht ungefährlich ansehen. Zum einen finden wir es höchst bedenklich, wenn Politiker*innen der Bevölkerung zurufen, jetzt doch nicht so genau hin zusehen und über mögliche Fehler und Fehlentwicklungen hinweg zusehen. Denn damit tritt unseres Erachtens ein bedenkliches Verständnis des Verhältnisses von Politik und Gesellschaft zutage. Zweifelsohne sind regierende Politiker*innen mit der Autorität ausgestattet, auf der Basis der Gesetze und der Verfassung zu agieren und auch in die Freiheiten der Bürger*innen einzugreifen.

Wobei: So ganz ohne Zweifel sind nicht alle, die sich damit beschäftigen. Der Philosoph Mike Huemer hat sich ein seinem Buch „The Problem of Political Authority“ (2013) mit verschiedenen Versuchen beschäftigt, die Idee der politischen Autorität zu begründen. Nachdem er sich demokratietheoretische Entwürfe, kontraktualistische Theorien und einiges mehr angesehen hat, kommt er zu dem Schluss, dass politische Autorität nicht begründbar sei.

Doch lassen wir diese Diskussion beiseite und nehmen an, dass gewählte Politiker*innen politische Autorität im oben genannten Sinne haben: Selbst dann ist es keinesfalls so, dass sie über jegliche Kritik erhaben wären. Die Aussage Söders, man solle jetzt nicht so sehr auf die Unzulänglichkeiten blicken, lässt sich aber genau in diesem Sinne interpretieren. „Leute, wir machen das schon, wir wollen ja nur euer Bestes“, hätte er auch sagen können. Das mögen wir ihm ja glauben, ob er deswegen alles richtig macht ist damit aber noch lange nicht gesagt. Und es wäre fatal, wenn keine Kritik mehr möglich, erlaubt oder auch nur toleriert würde. Regierungen, Präsident*innen, Minister*innen und Parlamente stehen den Bürger*innen ja keineswegs wie ein Unternehmensboss gegenüber: Hier mag es richtig sein, gewisse Entscheidungskompetenzen unhinterfragbar auszuüben (auch wenn freilich offen ist, ob so etwas einen guten Führungsstil ausmacht). Demgegenüber haben Regierungen ihre Autorität und Entscheidungskompetenz von den Bürger*innen übertragen, zugesprochen bekommen, und zwar sicher nicht auf unhinterfragbare Weise. Aus dem geforderten „social distancing“ wird sonst schnell ein „social silencing“.

Zum zweiten: Die Rolle der Solidarität, wie sie in vielen politischen Aussagen derzeit thematisiert wird, scheint uns zumindest diskussionswürdig zu sein. Nicht weil Solidarität an sich falsch wäre. Der Hinweis Söders (und vieler anderer) auf die Solidarität ist natürlich richtig und wichtig. Die Situation, in der wir uns derzeit befinden, lässt sich als soziales Dilemma beschreiben, aus dem uns gegenseitige Solidarität heraushelfen kann. Zentrales Element dieses Dilemmas ist, dass wir die für uns alle beste Situation erhalten – möglichst wenige Menschen sterben, das Virus wird eingedämmt –, wenn wir alle zurückstecken, „social distancing“ betreiben und die Infektionskette unterbrechen. Das aber ist für uns individuell nachteilig. Wir haben viel mehr Anreize, uns gerade nicht vom sozialen Leben und anderen Menschen zu distanzieren. Uns selbst wird es schon nicht treffen, und wenn, dann wird es nicht schlimm, so denken wir vielleicht. Weil das so ist, wird es sehr schwer, ohne externen Anreiz oder Druck Corona zu bekämpfen. Der Hinweis auf die nötige Solidarität ist ein Mittel, um uns durch die soziale Norm der Solidarität dazu zu bringen, uns im Sinne des optimalen Ergebnisses, d.h. gemeinwohlorientiert, zu verhalten. Soziale Normen haben nicht selten die Kraft, Verhalten in diesem Sinne zu regulieren. Wer möchte schon als unsolidarisch, als Egoist gelten? Doch – nur auf Deutschland bezogen – rund 80 Millionen Menschen per sozialer Norm zu regieren erscheint schwierig. Deswegen muss die Kraft politischer Autorität das Verhalten nicht nur normieren, sondern mit Sanktionen herbeiführen – so die Essenz vieler politischer Theorien seit Thomas Hobbes.

Die Solidarität, die jetzt zu gelten habe, erfüllt darüber hinaus auch die Funktion, das politische Handeln zu rechtfertigen. Denn Solidarität zeigen heißt nicht etwa zu Hause bleiben und an die älteren Mitmenschen denken. Solidarität zeigen heißt bei Söder und den Freunden des starken (Corona-)Staates: die tiefgreifenden Maßnahmen akzeptieren, die die bayerische Staatsregierung durchführt.

An die Solidarität zu appellieren hat aber noch eine dritte Funktion, die auf den oben genannten Punkt zurückführt: So wenig Kritik erwünscht ist, so sehr hilft der Verweis auf Solidarität dabei, Kritik auch möglichst fern zu halten. Denn klar ist: Wer die Maßnahmen, entgegen der Söderschen Aufforderung zum Gegenteil, kritisiert, steht nicht mit den anderen zusammen, zeigt sich unsolidarisch. Shitstorms sind vorprogrammiert. Wer möchte da schon anmerken, die Strategie der Eindämmung ist vielleicht nicht die effizienteste Art, Corona Herr zu werden?

Es gibt sicher keine Patentlösung für Corona, vor allem weil wir damit zu wenig Erfahrung haben. Manche Länder (Südkorea, Taiwan, Singapur) scheinen es auch ohne gravierende Einschränkungen des sozialen Lebens geschafft zu haben, die Pandemie in Zaum zu halten. Das mag sicherlich mit deren vergangener Erfahrung mit der SARS-Epidemie zu tun haben. Im Falle von Pandemien dieser Art, welche glücklicherweise recht selten vorkommen, stehen Politiker vor der Herausforderung, in Zeiten der Unsicherheit Sicherheit und Gesundheit zu garantieren. Dass sie dies mit bestem Gewissen tun, spricht ihnen niemand ab. Gleichermaßen darf erwartet werden, dass Fehler passieren, und Fehler seien den Politiker*innen auch zugestanden. Wenn dies aber nicht mehr thematisiert werden darf, weil wir doch alle solidarisch akzeptieren sollen, was aus den Hauptstädten dieser Welt kommt, dann wird es problematisch. Wir hoffen, dass die Medien, dass alle Bürger*innen weiterhin ein offenes Auge haben, wenn es um die Handlungen ihrer Regierungen geht. Und wir hoffen, dass in Zeiten kollektiver Verunsicherung ernsthaft und offen debattiert werden kann, welche Strategien die besten sind. Gerade weil es kein Patentrezept gibt, sollte man nicht nur eine Strategie als gegeben hinnehmen.


Foucault, Michel (1993) Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp.

Huemer, Mike (2013) The Problem of Political Authority: An Examination of the Right to Coerce and the Duty to Obey, Palgrave Macmillan.


Johannes Kögel und Andreas Wolkenstein sind Wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU München.

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