12 Mai

Alle zusammen oder jeder allein? Der Wert von (un)einheitlichem Handeln in unsicheren Zeiten

Von Moritz Schulz (Dresden)


In diesen Tagen verabschiedet die Bundesregierung ein Gesetz, dass die Länder in einigen Aspekten der Pandemiebekämpfung zu einheitlichem Handeln verpflichtet. Wann und warum ist einheitliches Handeln eigentlich wünschenswert? Dieser Beitrag soll zeigen: ob (un)einheitliches Handeln gut oder schlecht ist, hängt stark vom Ausmaß der Unsicherheit ab. Bei großer Unsicherheit verspricht uneinheitliches Handeln einen Zuwachs an Informationen. Umgekehrt gilt aber auch: je besser man Bescheid weiß, desto mehr spricht für einheitliches Handeln.

Große Unsicherheit & uneinheitliches Handeln

Handeln unter Unsicherheit lässt sich mit einer Suche nach etwas vergleichen, von dem man nicht weiß, wo es ist. Schön wäre es, man wäre zu zweit. Dann kann die eine hier suchen, der andere dort. Und natürlich wäre es noch besser, man wäre zu dritt, zu viert, zu fünft. Die Lesebrille, eine vermisste Katze oder der Weihnachtsschmuck vom letzten Jahr wären so schnell gefunden.

Übertragen auf gesellschaftliches Handeln kann es demnach sinnvoll sein, verschiedene Lösungsansätze auszuprobieren – vorausgesetzt, es besteht ein hohes Maß an Unsicherheit darüber, wie sich die fragliche Herausforderung bewältigen ließe. Was man gewinnt, ist neue Evidenz und im Idealfall Wissen darüber, wie sich ein Problem lösen lässt (und wie auch nicht).

Liegt der Wert von uneinheitlichem Handeln vor allem in Informationsgewinnung, dann ist uneinheitliches Handeln besonders dann sinnvoll, wenn die Akteure bereit sind, voneinander zu lernen. Aus uneinheitlichem Handeln wird so mit der Zeit einheitliches Handeln, weil die Phase des uneinheitlichen Handelns hinreichend aussagekräftige Informationen hervorgebracht hat, wie sich das fragliche Problem lösen lässt.

Die Illusion von Sicherheit

Der Wunsch, man möge einheitlich handeln, begleitet die Debatten zur Bekämpfung der Pandemie seit ihrem Beginn. Es mag daher zunächst unplausibel erscheinen, bei starker Unsicherheit und großen gesellschaftlichen Problemen uneinheitliches Handeln zuzulassen.

Mein Verdacht ist allerdings, dass einheitliches Handeln eine gewisse Form von Illusion kreieren kann, die auf keinem starken Grund beruht, einheitlich zu handeln. Um das zu illustrieren, stelle man sich einen See mit zwei Gruppen von Taucherinnen vor. Die erste Gruppe schwimmt gemeinsam los und visiert die Mitte des Sees an. Dort tauchen sie gleichzeitig alle ab. Die zweite Gruppe verhält sich dagegen eher chaotisch. Die Taucherinnen schwimmen einzeln los und tauchen mal hier, mal dort in die Tiefe.

Wem würde eine außenstehender Beobachterin die größere Kompetenz zusprechen? Welche Gruppe erscheint als eine, deren Mitglieder wissen, was sie tun?

Meines Erachtens geht von der sich einheitlich verhaltenden Gruppe ein gewisser Zauber ausgeht: Hier wird offenbar ein Plan verfolgt! In meinen Augen kann einheitliches Handeln auf diese Weise die Wahrnehmung von Unsicherheit in den Hintergrund drängen. Der Wunsch nach einheitlichem Handeln kaschiert so einen Wunsch nach Sicherheit. Verständigt man sich auf einheitliches Handeln, dann kann man leichter glauben, dass jetzt eine befriedigende Lösung gefunden wurde. Handeln Akteure hingegen ungleich, so ist augenfällig, dass ein Teil von ihnen nicht optimal handelt. Es gilt, die Unsicherheit darüber auszuhalten, dass keiner bisher genau weiß, was zu tun ist.

Die illusionäre Kraft, die von einheitlichem Handeln ausgehen kann, kann uns manchmal wirklich täuschen. Angenommen, die Taucherinnen suchen nach einem gesunkenen Ausflugdampfer, von dem sie nicht wissen, wo er gesunken ist. Die erste Gruppe verständigt sich, gemeinsam zunächst in der Mitte des Sees zu tauchen. Die zweite Gruppe verständigt sich, einzeln verschiedene mögliche Orte abzusuchen. Natürlich verhält sich die zweite Gruppe besser: Sie wird im Durchschnitt das Wrack schneller finden. Und die erste Gruppe verhält sich zwar einheitlich, ist sich aber keinesfalls sicher. Die Sicherheit wird lediglich durch die Einheitlichkeit vorgegaukelt, weil ihr Handeln sinnvoll wäre, wenn sie wüssten, wo das Schiff gesunken ist. Ohne dieses Wissen ist ihr Handeln jedoch ziemlich, nun ja, dämlich.

Aus der Psychologie wissen wir, dass Menschen Unsicherheit nicht mögen und diese nach Möglichkeit zu reduzieren versuchen. Womöglich ist einheitliches Handeln eine weitere Strategie, Unsicherheit zu reduzieren – nur ist das nicht immer gut: in einige Situationen sollten wir bereit sein, die mit uneinheitlichem Handeln verbundene Unsicherheit auszuhalten.

Einheitliches Handeln trotz großer Unsicherheit

Manchmal, wenn nicht sogar oft, ist es aber so, dass trotz großer Unsicherheit einheitliches Handeln geboten ist. Einfach deshalb, weil es ausreichend wahrscheinlich ist, dass nur einheitliches Handeln Erfolg haben kann.

Stellen wir uns zwei Rettungsschiffe vor, die nach einer führerlosen Bohrinsel suchen. Es ist allen klar, dass eine Ölkatastrophe unmittelbar bevorsteht. Für eine gründlich Suche bleibt keine Zeit. Klar ist auch, dass die Bohrinsel nur dann gesichert werden kann, wenn beide Rettungsboote gleichzeitig zur Stelle sind. In unserem Szenario könnte ein Rettungsboot allein nichts ausrichten. Leider lässt sich die Bohrinsel nicht eindeutig orten. Ihre unvollständigen Ortungsdaten lassen zwei mögliche Standorte zu: A und B. In einer solchen Situation besteht kein Zweifel, dass beide Rettungsschiffe einheitlich handeln sollten. Sie sollten entweder beide Ort A oder beide Ort B ansteuern. Es besteht zwar Unsicherheit bezüglich des Standortes der Bohrinsel, aber es besteht keine Unsicherheit darüber, dass nur einheitliches Handeln zum Erfolg führen kann. Würden die Rettungsboote unterschiedliche Orte ansteuern, dann wäre es bereits im Vorhinein eine ausgemachte Sache, dass sie ihr Ziel – die Bohrinsel zu sichern – nicht erreichen könnten. Handeln sie einheitlich, so haben sie zumindest eine Chance.

Daneben bietet einheitliches Handeln eine ganze Reihe indirekter Vorteile, was Umsetzung, Kommunikation, Koordination und Motivation angeht. Zusammengenommen können diese positiven Effekte schnell überwiegen, insbesondere dann, wenn der mögliche Mehrwert an Informationsgewinnung gering ist.

Die vielleicht augenfälligste Eigenschaft von einheitlichem Handeln ist Einfachheit. Wird das gesellschaftliches Handeln von bestimmten Vorgaben (z.B. Pandemieregelungen) geleitet, ist es bei Einheitlichkeit viel leichter zu erkennen, wie man sich verhalten soll. Gerade wenn bei der Erstellung von Regeln auch mitgedacht wird, wie wahrscheinlich es ist, dass sie eingehalten werden, gewinnt Einfachheit an Wert: je einfacher sich die einschlägigen Regeln identifizieren lassen, desto leichter lassen sie sich befolgen.

Einfachheit birgt auch einen Kommunikationsvorteil. Einheitliches Handeln lässt sich mit weniger Aufwand kommunizieren. Es wird den Adressaten leichter fallen, die Regel zu verstehen. Und es liegt nahe, dass gut kommunizierbare und leicht verständliche Regeln auf mehr Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen. Zudem vermittelt einheitliches Handeln häufig ein positives Gefühl („wir ziehen alle an einem Strang!“), das mittelbar die Motivation erhöht, die vorgegebene Regeln auch zu befolgen.

Eine vereinfachte Kommunikation, größere Akzeptanz und erhöhte Motivation sind daher wichtige Mitnahmeeffekte von einheitlichem Handeln. Auf einer weniger psychologischen Ebene bietet einheitliches Handeln noch einen weiteren Vorteil: bessere Koordination und damit verbundene Mehrwerte. Einheitliche Regeln im Straßenverkehr innerhalb der Bundesländern erleichtern den Fahrzeugbau (und die Fahrzeugführung). Einheitliche Bauordnungen in den Bundesländern würden es erlauben, größere Stückzahlen von Baukomponenten zu produzieren, wodurch die Preise sinken könnten.

All diese Effekte gewinnen noch zusätzlich an Wert, wenn mögliche Vorteile durch uneinheitliches Handeln marginal sind. Handeln beispielsweise die Bundesländer alle unterschiedlich, aber dennoch vergleichsweise ähnlich, so gehen die möglichen positiven Mitnahmeeffekte von einheitlichem Handeln verloren. Zu gewinnen gibt es aber fast nichts: der mögliche Erkenntnisgewinn ist bei sehr ähnlichem Verhalten eher gering und verschwindet vermutlich durch unterschiedliche Randbedingungen in den Ländern nahezu komplett.

Die Bund-Länder-Perspektive ist für die Bewertung von einheitlichem politischen Handeln in der Pandemie aber womöglich ohnehin die falsche. Das global gesehen sehr unterschiedliche Vorgehen bei der Bekämpfung der Pandemie – man vergleiche die Strategie in Deutschland beispielsweise mit dem Vorgehen in Schweden, Taiwan, China, Australien oder Brasilien – liefert schließlich bereits ausreichend viele Informationen und zahllose Einsichten. Verglichen damit ist der mögliche Erkenntnisgewinn durch leicht unterschiedliches Handeln in den Bundesländern verschwindend gering. Im Lichte der großen Mitnahmeeffekte von einheitlichem Handeln, darf man deshalb davon ausgehen, dass das unterschiedliche Handeln in den Bundesländern mehr geschadet als genützt hat.

Abnehmende Unsicherheit & einheitliches Handeln

Der Pandemiebeginn liegt bereits mehr als ein Jahr zurück. Und seitdem gab es extrem viel zu lernen: einerseits durch rapiden wissenschaftlichen Fortschritt, aber auch durch trial-and-error (bzw. trial-and-success) überall auf der Welt. Es ist deshalb klar, dass die Unsicherheit über die Wirkmechanismen des Virus und seine Folgen stark abgenommen hat.

Wenn der Wert von uneinheitlichem Handeln in hohem Maße in Informationsgewinnung besteht, dann wird dieser Wert mit zunehmender Informationssicherheit kleiner. Je mehr wir wissen, desto weniger müssen wir experimentieren.

Was folgt daraus für „Modellprojekte“ (oder „Modellregionen“)? Wenn weniger Unsicherheit den Raum für sinnvolle Experimente verkleinert, sollte dann nicht jetzt weniger statt mehr experimentiert werden? Über den Daumen gepeilt scheint mir das zu stimmen. Aber weniger Unsicherheit schließt einen Rest Unsicherheit ja nicht aus. Gute Modellprojekte wären demnach Projekte, die im Lichte des inzwischen vorhandenen Wissens mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein werden. Sie würden helfen, den Rest an Unsicherheit zu reduzieren, der in den verschiedenen Bereichen der Pandemiebekämpfung noch immer vorhanden ist. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die Messlatte für ein gutes Modellprojekt inzwischen ziemlich hoch liegt, weil wir inzwischen ziemlich viel darüber wissen, welche Art von Maßnahmen wahrscheinlich keinen Erfolg haben werden. Deshalb lässt sich mit einer Restunsicherheit nicht jedes Modellprojekt rechtfertigen.

Es besteht die Gefahr eines rhetorischen Missbrauchs: Die Rede von „Modellprojekten“ kann ein bloßer rhetorischer Hebel sein, um die Tür zu Öffnungen aufzubrechen. Aber wer vorher schon ziemlich leicht herausfinden kann, dass sein „Modellprojekt“ nicht funktionieren wird, der muss es nicht ausprobieren, um ganz sicher zu sein. Das wäre unverantwortlich.

Die sogenannte „Bundesnotbremse“ wird gerne dafür gelobt, dass sie zumindest einige einheitliche Regeln in der Pandemie-Bekämpfung vorschreibt. Bei gleicher Inzidenz soll auch gleich gehandelt werden, zumindest in einigen Bereichen. Hier die Einheitlichkeit zu loben, ist in meinen Augen richtig. Das heißt natürlich nicht, dass man die beschlossenen Maßnahmen für bestmöglich (oder auch nur für annähernd gut) halten muss. Aber dass die Maßnahmen nun Länder-übergreifend einheitlich sind, scheint mir tatsächlich ein positiver Aspekt zu sein.  Für Uneinheitlichkeit wissen wir inzwischen einfach zu viel.


Moritz Schulz ist Professor für Theoretische Philosophie an der TU Dresden. Er leitet derzeit ein Forschungsprojekt zu „Entscheidungen und Wissen“ (Emmy-Noether Programm der DFG) und ist Autor von Counterfactuals and Probability (2017, Oxford University Press).

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