07 Mrz

Solidarität als Laster. Zum Beispiel die Nahostdebatte

Bild des Eintrags Antisemitismus im Wörterbuch

Von Tim F. Huttel (Rostock)


Wenn die Moralistin sich solidarisch zeigt, offenbart sie darin ein Laster und keine Tugend. Es steckt wenig Nobles darin, vielmehr konstruiert sie die Objekte ihrer Solidarität, weil sie ihrer bedarf. Denn in der Solidarität begibt sich die Moralistin, die selbst nicht politisch urteilen kann, in die Rolle der Helferin, in der sie auch nicht politisch urteilen muss. Eben hierin steht die Solidarität als Laster der Solidarität als Tugend, die auf unabhängigem Urteil beruht, diametral gegenüber. Den Schaden dieses Lasters trägt eine Öffentlichkeit, die um Gelegenheiten zur vernünftigen Meinungsbildung gebracht wird. Dies wird gerade im Fall der Nahostdebatte deutlich, die von Beiträgen geflutet wird, denen es allein darum geht, „sich zu positionieren“, auf der „richtigen Seite“ „Haltung zu zeigen“, während das Abwägen der Gesichtspunkte, die für die jeweiligen Position sprechen könnten, durch eben diese Bekenntnispolitik versäumt wird.

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27 Feb

Ziviler Ungehorsam – wo ist Dein Standort? Ein Kurztrip zwischen Mottenkiste, Moral und Verfassungsrecht

Von Eckardt Buchholz-Schuster (Coburg)


In regelmäßigen Intervallen wird ziviler Ungehorsam in Demokratien gesellschaftlich, politisch und rechtlich aktuell, so auch seit einiger Zeit wieder in Deutschland. Und jedes Mal hat es fast den Anschein, als ob diese rechtsphilosophisch seit langem differenziert und aus verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtete Kategorie nicht nur auf praktischer, sondern auch auf theoretischer Ebene neu erfunden oder doch zumindest neu legitimiert werden müsste. Dabei könnte ein wenig Rückbesinnung auf klassische, rechtsphilosophisch fundierte Beschreibungen zivilen Ungehorsams viel zur Versachlichung mitunter aufgeregter Diskurse der Gegenwart beitragen. 

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20 Feb

Robert Bernasconi on the relationship between phenomenology and critical philosophy of race

In Kooperation mit dem Journal für Phänomenologie veröffentlichen wir dieses Interview mit Robert Bernasconi, geführt von Marc Rölli, zum Verhältnis von Phänomenologie und critical philosophy of race und Postkolonialismus, u.a. mit Bezug auf bei Sartre, Levinas, Heidegger und Kant.


Marc Rölli: In German-language phenomenology, to this day your work not only on phenomenology but also your work on race and racism is known to many. This is at least partly due to the fact that you were present in the context of the DFG Research Training Group »Phenomenology and Hermeneutics« and the resulting working group »Phenomenology and Recent French Philosophy« at the Ruhr-Universität Bochum in the circle of Bernhard Waldenfels. Would you describe to our readers how you found access to the graduate school or the later working group – and how you perceived the cooperations with Waldenfels and his collaborators?

Robert Bernasconi: My first visit to Bochum to be a participant in some workshops of the research group gathered around Bernhard Waldenfels was so long ago that I no longer remember the precise details of how the initial invitation came about. All that I can say is that it was very important for me as a young philosopher to be exposed to the ideas not only of Waldenfels himself, who always asked such insightful questions, but also of the brilliant scholars who were part of that same group. You need to know that during the period of my philosophical formulation in England I was somewhat isolated. To be sure, my supervisor at the University of Sussex, Rickie Dammann, placed a great deal of trust in me, as did my colleagues at the University of Essex where I taught from 1976 to 1988. I owe them a great deal for that, but I was essentially self-taught. For example, I was among the very first to read Levinas in England. To be able to be part of the conversations in Bochum, to be able to engage with people who had read the texts with the same care, was more important to me than anybody there could have imagined. But it was also great fun. I remember a party after the work was done when with what in those days was called a boombox (Ghettoblaster) we danced on the grass surrounding the University. 

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13 Feb

Drei Zeithorizonte des guten Lebens

Von Tobias Vogel (Witten/Herdecke)


In unserem Alltag haben wir von der Zeit zu viel oder zu wenig, sie rauscht an uns vorbei oder scheint stillzustehen, konfrontiert uns mit Langeweile oder Hast. Wir planen mit ihr, eignen sie uns aktiv an, und sind passiv von ihr betroffen. Ob wir uns um nachfolgende Generationen sorgen, die Verwirklichung unserer Lebensziele erstreben oder den Moment genießen: unser Bemühen um ein erfülltes Leben richtet sich zugleich auf verschiedene Zeithorizonte.

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30 Jan

Phänomenologie und Perspektiven post- und dekolonialer Kritik

von Marc Rölli (HGB Leipzig)


Die Phänomenologie mit ihrer post- und dekolonialen Kritik zu konfrontieren, kann als ein aktuelles, modisches oder brennendes Anliegen betrachtet werden. Es mehren sich die Stimmen, die der Philosophie in ihren verschiedenen Spielarten nicht nur eurozentrische, sondern ›koloniale‹ Züge attestieren. Womöglich also ist es ›an der Zeit‹, sich als Phänomenolog*in intensiv und ernsthaft mit den jüngst geäußerten und oftmals radikal erscheinenden Kritiken auseinanderzusetzen. Ein anderer Gestus wäre es, gelassen abzuwinken. So sähe eine selbstzufrieden souveräne Haltung aus – bewunderungswürdig in ihrer Nichtbelangbarkeit, und doch in ihrem Auftritt eitel, verstockt, weltfremd.

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18 Jan

Für eine Neuregelung der pandemiebedingten Triage

Von Norbert Paulo (Berlin und München)


Der Marburger Bund unterstützt eine Verfassungsbeschwerde gegen die Regelung der Triage im Infektionsschutzgesetz. Eine gute Gelegenheit, das Gesetz vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen: Das Verbot der Ex-post-Triage macht alle anderen Triage-Regelungen praktisch irrelevant.

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16 Jan

Polyamorie und der Fetisch der romantischen Liebe in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


And so I fall in love just a little ol‘ little bit
Every day with someone new

I fall in love just a little ol′ little bit
Every day with someone new 
I fall in love just a little ol‘ little bit
Every day with someone new
I fall in love just a little ol‘ little bit
Every day with someone new

Hozier, Someone new

Polyamorie kann als liberales Projekt verstanden werden. Damit meine ich, dass Polyamorie, erstens, das Konzept der Liebe liberalisieren will, also frei machen von der Vorstellung, sie wäre exklusiv auf eine einzige Person bezogen. Und, das folgt daraus, dass Polyamorie, zweitens, die Praxis der Liebe liberalisieren will, also betont, dass Menschen tatsächlich frei darin sein sollten, mehrere Menschen zu lieben und mit ihnen eine Liebesbeziehung einzugehen. Ob dies, unter aktuellen Bedingungen, gelingen kann, ist damit nicht gesagt und auch nicht, welcher Preis für diese Befreiung zu zahlen ist.

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11 Jan

Anti-antisemitische »Staatsraison«?

Eine Antwort auf Igor Levits Beschwerde über fatales Schweigen angesichts der jüngsten islamistischen Demonstrationen in Deutschland

von Burkhard Liebsch (Universität Bochum)

In einem langen Interview beklagte kürzlich der bekannte Pianist Igor Levit in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT ein fatales Schweigen über die jüngsten antisemitischen Proteste auf deutschen Straßen, in denen wieder einmal, diesmal allerdings von radikalen Islamisten, »Tod den Juden« skandiert wurde. Das richte sich gegen alle, die sich der »moralischen Grundlage« der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlen. Verrät das von Levit festgestellte Verharren der Zivilgesellschaft in kollektivem Schweigen »emotionale Teilnahmslosigkeit« (wie es der Interviewer Giovanni di Lorenzo ausdrückte) und ein völliges Verkennen der Herausforderung, die für alle Bürger in jenen Protesten liegt? 

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05 Dez

Judenhass im Namen von Freiheit und Würde

Bild des Eintrags Antisemitismus im Wörterbuch

Joël Ben-Yehoshua (Jena)


„Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft dem Judenstaat erklären wir den Krieg“


In Anbetracht des antisemitischen Massakers in Israel am 7. Oktober 2023 und der teils verstörenden globalen Reaktionen darauf hat Philip Hogh darauf aufmerksam gemacht, dass es eine „genuine Aufgabe kritischer Theorien“ ist, das Phänomen Antisemitismus besser zu erfassen sowie zu verstehen, „warum soziale Bewegungen und mit ihnen sympathisierende und sich als Kritiker*innen verstehende Intellektuelle antisemitische Morde beklatschen oder relativieren“.

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28 Nov

Zwei Begriffe der Wissenschaftsfreiheit? Eine Replik auf Karsten Schubert

Von Dieter Schönecker (Siegen)


Der Berliner Philosoph Karsten Schubert kritisiert in seinem Aufsatz über „Zwei Begriffe der Wissenschaftsfreiheit“ den (angeblichen) Begriff, den das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (NW) verwende. Dieser sei unpolitisch, man bedürfe aber eines kritisch-politischen Begriffs. Schubert irrt. Weder operiert das NW mit einem unpolitischen Begriff von Wissenschaftsfreiheit noch lässt sich mit der von ihm propagierten kritischen Theorie die akademische Cancel Culture (CC) begründen.

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