04 Mai

Die Freiheit zu Sprechen und die Pflicht zu Hören

von Christoph Merdes


Die Freiheit, den Mund aufzumachen bedeutet nicht viel, wenn einem niemand zuhört. Zugleich aber bin ich doch nicht verpflichtet jedem Beliebigen zuzuhören; die Gesellschaft muss doch keinen Dienst bereitstellen, der dafür sorgt, dass jede Meldung in den sozialen Medien, jeder Ruf an einer Straßenecke von irgendjemandem gehört wird. In diesem Dilemma findet sich die Freiheit zum Sprechen, zwischen der Notwendigkeit, gehört zu werden, und der fehlenden Pflicht, zu hören.

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30 Mrz

Brauchen wir eine allgemeine Dienstpflicht? Eine philosophische Einmischung

Von Dietrich Schotte (Regensburg)


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Schon vor Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine vor gut einem Jahr wurde von Politiker:innen immer wieder laut die Überlegung geäußert, nicht nur die ausgesetzte (nicht „abgeschaffte“!) Wehrpflicht wieder einzuführen – sondern diese gleich zu einer ‚allgemeinen Dienstpflicht‘ zu erweitern. Und diese Überlegungen werden lauter und von einem politisch zusehends breiteren Kreis geäußert, seit klar ist, dass sich dieser Krieg hinziehen wird.

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02 Mrz

Politik der Bedürfnisse. Eine Replik

von Christoph Henning (Erfurt)


Die menschlichen Bedürfnisse sind von Seiten eines Teams von AutorInnen in die Diskussion geworfen worden. Obwohl durch die „11 Thesen“ dabei ein Bezug auf Marx suggeriert wird, kommen die Bedürfnisse allerdings schlecht weg. Der Ball wird an dieser Stelle aufgenommen und in rettender Absicht werden einige Gegenthesen formuliert.[1]

1. Materiale Kritik oder pauschale Ablehnung des Konzepts natürlicher Bedürfnisse?

Der Rückbezug auf unerfüllte Bedürfnisse ist bei Protesten ein beliebtes Argument. Das Team moniert, dass sich nicht nur emanzipatorische, sondern auch konservative und populistische Bewegungen auf eine naturalistisch klingende Definition menschlicher Bedürfnisse stützen. Darauf ist in der Tat zu reagieren. Zwei Reaktionen sind denkbar: Entweder wir kritisieren problematische Verkürzungen des Bedürfnis-Begriffs und schlagen Alternativen vor. So drückt die Gelbwesten-Forderung nach subventioniertem Benzin kein Bedürfnis nach Öl, sondern nach Bewegungsfreiheit aus, und dem lässt sich auch besser mit einem funktionierenden öffentlichen Verkehr nachkommen. Oder man zieht den Schluss, jeden naturalistisch aussehenden Bedürfnis-Begriff abzulehnen. Damit kritisiert man aber nicht nur problematische Phänomene, sondern verliert auch den Anschluss an eine breite Palette emanzipatorischer sozialer Bewegungen – ein hoher Preis.

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28 Feb

Über die Wegerfindung der Cancel Culture

Von Dieter Schönecker (Siegen)


Seitdem der Streit über die sogenannte Cancel Culture (CC) angefangen hat, wird immer wieder behauptet, dass es sie im Grunde gar nicht gebe; Sebastian Huhnholz [1], Steffan Lessenich [2] und Jan-Werner Müller [3] sind bekannte Vertreter dieser These. Der Stanforder Literaturwissenschaftler Adrian Daub hat nun sogar ein dickes Buch (Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst, Suhrkamp 2022) geschrieben mit dem Ziel, eben diese CC-Leugnung umfassend zu verteidigen: So etwas wie eine CC als breites, ernstzunehmendes Problem gebe es nicht oder nur „angeblich“ (eine von Daub dutzende Male gebrauchte Vokabel) und sei jedenfalls nicht belegt. Vielmehr beruhe die Debatte um CC nur, so Daub, auf „Anekdoten“ (davon ist ständig die Rede) und „Einzelfällen“ (10, 191, 281) und sei daher auch nur Ausdruck einer „moralischen Panik“ (so schon im Buchtitel), der als hysterisches Gefühl der Bedrohung in der Realität nichts entspreche; um die Realität der CC zu bezweifeln, verwendet er auch Ausdrücke wie „Mär vom zensurwütigen linken Amerika“ (18), „Fabel“ (20), „Posse“ (20), „Bagatelle“ (22), „Provinzposse“ (47), „Lappalie“ (29), „jahrzehntealte Zwischenfälle“ (29), „holzschnittartige Erzählung“ (29), „ritualisierte Wiederholung“ (37), „reißerische Neubeschreibung klassischer akademischer Auseinandersetzungen“ (47), „eklatante Banalität“ (50, 315), „Legende“ (168, 201, 203), „urban legend“ (201), „Mythos“ (201), „Folklore“ (201), „Privatmythologie“ (315), „relativ kontextfreie Beispiele“ (321). Zudem sei die CC-Debatte auch nicht neu, sondern nur eine neuerliche Variante (u. a.) der Kritik an der Political Correctness, die in Europa aus antiamerikanischen Motiven heraus importiert worden sei, um dem vermeintlichen Exporteur die Schuld zu geben.

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16 Jan

Ein religionspädagogischer Beutelsbacher Konsens? Der Schwerter Konsent als Ergebnis einer Fachtagung

Von Jan-Hendrik Herbst (TU Dortmund)


In unterschiedlichen Fachdidaktiken gibt es eine Auseinandersetzung um den Beutelsbacher Konsens (BK), die Neutralität von schulischer Bildung und eine „Kontroverse über Kontroversitätsgebote“. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Aktualisierungen und Modifizierungen vom BK vorgenommen, u. a. im Magdeburger Manifest (Demokratiepädagogik), in der Frankfurter Erklärung (kritische politische Bildung) und im Dresdener Konsens (Philosophiedidaktik). Für Religionspädagogik und religiöse Bildung gab es ein vergleichbares Koordinatensystem bisher nicht – auch wenn der BK religionspädagogisch durchaus rezipiert wurde. Diese Rezeption erfährt dabei Impulse durch die anderen Fachdidaktiken und sie wird durch aktuelle gesellschaftliche Debatten intensiviert (z. B. durch die kontroversen Auseinandersetzung über Migrationspolitik, Coronamaßnahmen und Waffenlieferungen – allesamt Themen, die auch im Rahmen religiöser Bildung diskutiert werden). Vor diesem Hintergrund wurde im März 2022 eine religionspädagogische Tagung organisiert, die anhand konkreter und gesellschaftlicher Themen religiöser Bildung (Ökonomie, Ökologie und Antisemitismus) die Fragen rund um Kontroversität, Positionalität und Neutralität thematisierte. Eine Perspektive der Tagung war es auch, die Möglichkeit und Notwendigkeit eines religionspädagogischen BKs und seiner Ausformulierung zu diskutieren. Als Ergebnis dieser Diskussion wurde nun, am 29. September 2022, der sog. „Schwerter Konsent“ publiziert. Bewusst wurde auf den stärkeren Begriff „Konsens“ (Einigung, der alle zustimmen) verzichtet und die schwächere Bezeichnung „Konsent“ (Einigung, die niemand ablehnt) gewählt. Diese Begrifflichkeit aus der Soziokratie zeigt an, dass keine schwerwiegenden Einwände mehr vorliegen. Damit sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ähnlichen Prinzipiensets angezeigt, die den „Schwerter Konsent“ inspiriert haben.

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29 Dez

Waste Animals

Von Johann S. Ach (Münster)


In Deutschland wurden 2021 rund 2,5 Millionen Tiere im Zusammenhang der tierexperimentellen Forschung gezüchtet und getötet, die nicht in Versuchsvorhaben eingesetzt wurden. Ihre Nutzung als Futtermittel stellt, wie im Folgenden dargelegt wird, nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus ethischer Perspektive keinen Grund dar, der ihre Erzeugung und Tötung rechtfertigen könnte.

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22 Dez

Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau – Geschlechterbegriffe in Wörterbüchern

Moritz Cordes (Bochum)


Die Sichtweise, dass die zwei Geschlechterbegriffe ‚Mann‘ und ‚Frau‘ in vielen Umgebungen nicht in einem traditionellen Sinn zu verstehen sind, gewinnt immer mehr Anhänger. Es geht nicht mehr (ausschließlich) darum, welche Ausstattung der Körper hat. Aber wie ist dann die Rede über Frauen und Männer zu verstehen? Die Literatur hält einige Vorschläge bereit, die in methodologischen Hinsichten nicht gleichwertig sind.

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13 Dez

Feministische Forschung – Wie gelingt eine gute wissenschaftliche Praxis?

Das Orga-Team der Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ in der Akademie für Ethik in der Medizin in alphabetischer Reihenfolge: Mirjam Faissner (Bochum), Isabella Marcinski-Michel (Göttingen), Regina Müller (Bremen), Merle Weßel (Oldenburg)


Als Organisatorinnen der Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ (FME) sprechen wir uns für eine Medizinethik aus, die intersektional sowie kritik- und kontextsensitiv ist, und zu einer epistemisch gerechter(en) Praxis beiträgt. Aber was bedeutet das? Und wie gut können wir das umsetzen? Zwei Fragen, eine Antwort: Es gibt viel zu tun.

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06 Dez

„Ampeln“ für die moralische Bewertung von Lebensmitteln

Von Norbert Paulo (Berlin)


Seit etlichen Jahren wird über die Einführung von „Lebensmittelampeln“ diskutiert. Sie sollen eine einfache und schnelle Einordnung ermöglichen, wie gesund oder ungesund ein Lebensmittel ist. Viel ist bisher nicht daraus geworden. Eine Lebensmittelampel, die anzeigt, wie ein Lebensmittel in moralischer Hinsicht abschneidet, wäre allerdings noch wichtiger. Darauf sollte die Politik sich konzentrieren.

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01 Dez

Onkomoderne. Kapitalismus und/als Krankheit.

Von Michaela Wünsch (Berlin)


Onkomoderne ist eine Sammlung von Kolumnen der Berliner Künstlerin und Autorin Christina Zück, die zuerst in der Zeitschrift von hundert erschienen. Allein der programmatische Titel legt eine Zustandsbeschreibung und -analyse gegenwärtiger Verhältnisse nahe, die sich durch selbstdestruktive Expansion, Wucherung, aber auch Pathologisierung[1] von vermeintlichen Abweichungen von der Norm auszeichnet. Zück analysiert diese Verhältnisse anhand von Ereignissen, Vorträgen, Ausstellungen, Demonstrationen, Filmen, Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten und Gebäuden, denen sie alltäglich begegnet oder die sie besucht und bezieht sich in ihren ‚Diagnosen’ auf Theorien des Akzelerationismus, Anthropozäns, Marxismus und die Psychoanalyse.

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