18 Apr

Zur Kontroverse um das Kontroversitätsgebot: Ein politisch-liberales Kriterium

von Johannes Giesinger (Zürich)


In einem anregenden Beitrag auf diesem Blog befasst sich Johannes Drerup mit der Frage, was in der Schule „direktiv“ und was „kontrovers“ unterrichtet werden sollte. Als direktiv gilt hier ein Unterricht, der bestimmte Inhalte als gültig (wahr, richtig) vermittelt. Unterrichtet man ein Thema in kontroverser Weise, so bedeutet das hingegen, dass man es mit offenem Ausgang präsentiert und diskutiert. Drerup spannt den Bogen vom Beutelsbacher Konsens von 1976, der als normative Grundlage der politischen Bildung in Deutschland gilt, zur aktuellen internationalen Debatte. Letztere dreht sich um drei verschiedene Kriterien dafür, was kontrovers zu unterrichten ist.

Nach dem „sozialen“ Kriterium ist all das kontrovers zu präsentieren, was in der Gesellschaft tatsächlich kontrovers ist. Gemäß dem „politischen“ Kriterium sollen die Grundprinzipien der liberalen Demokratie direktiv unterrichtet werden, während kontroverse religiös-weltanschauliche Fragen mit offenem Ausgang zu präsentieren sind. Das „epistemische“ Kriterium wiederum geht von Standards der Wahrheit und moralischen Richtigkeit aus und besagt, dass offensichtlich Unwahres und Unrichtiges nicht kontrovers dargestellt werden soll. Drerup schlägt vor, das politische mit dem epistemischen Kriterium zu verbinden. Er schreibt,

dass epistemische Faktoren bei der Anwendung und angemessenen Interpretation des Kontroversitätsgebots zur Geltung kommen müssen. Unvernünftige Positionen, die sich nicht angemessen begründen lassen, müssen im Unterricht entsprechend nicht kontrovers diskutiert werden. Dies gilt auch für basale Grundwerte liberaler Demokratie – über die Legitimität von Rassismus müssen wir glücklicherweise keine Kontroverse mehr führen. Mit der Kopplung eines epistemischen mit einem politischen Kriterium verbunden ist das Ziel einer epistemischen Domestizierung und Zivilisierung politischer Konflikte, die davon ausgeht, dass man sich über bestimmte politische Positionen und Sachfragen im Rahmen einer liberalen Demokratie nicht sinnvoll streiten kann und streiten sollte.

Diese Verknüpfung der beiden Kriterien lässt sich so deuten, dass sich das epistemische Kriterium auf empirische, wissenschaftlich überprüfbare Aussagen bezieht, während das politische Kriterium die Ebene grundlegender Werte betrifft. Drerups besonderes Interesse gilt denjenigen Kontroversen, die zumindest vordergründig die Faktenebene betreffen – z.B. die Debatte darüber, ob der Klimawandel menschengemacht ist, oder ob der Holocaust stattgefunden hat.

Interessanterweise richtet sich Michael Hands einflussreiche Formulierung des epistemischen Kriteriums nicht primär auf Fragen wie diese, sondern auf moralische Kontroversen.[i] Hand vertritt die Auffassung, dass sich normative Fragen in rationaler Weise klären lassen. Dies ist für ihn die Grundlage für einen direktiven Unterricht in diesem Bereich, der allerdings zugleich diskursiv sein soll, indem er die Lernenden rational zu überzeugen sucht. Hands Begründung für diesen rationalistischen Ansatz bringt das guten Leben der Lernenden ins Spiel und ist in diesem Sinne als „perfektionistisch“ zu bezeichnen.

Allerdings ist es kontrovers, ob man sich im Leben an starken Rationalitätsmassstäben orientieren soll. Folglich, so könnte man sagen, verletzt ein direktiv-rationalistischer Unterricht das liberale Neutralitätsgebot. Er zwingt eine rationalistische Weltsicht auch jenen auch, die nicht-rationalen Lebenskonzepten folgen wollen. Dies führt zurück zum politischen Kriterium, das sich z.B. im Lichte eines politischen Liberalismus Rawlsscher Prägung ausdeuten lässt[ii]: Demnach sind jene Auffassungen direktiv zu unterrichten, die sich als „öffentlich rechtfertigbar“ erweisen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um diejenigen liberalen Grundprinzipien und -werte, die Drerup erwähnt. Alles andere gilt gemäß dem politisch-liberalen Modell als „vernünftigerweise umstritten“ in dem Sinne, dass „vernünftige“ Personen dazu unterschiedlicher Auffassung sein können. Dazu gehören beispielsweise religiöse Werthaltungen. Martha Nussbaum[iii] geht so weit, den Rawlsschen Begriff der Vernünftigkeit (reasonableness) ausschliesslich auf die Anerkennung liberaler Grundprinzipien zu beziehen und keinerlei epistemische Kriterien zuzulassen: Demnach gilt jede weltanschauliche Position als vernünftig, die mit liberalen Grundwerten vereinbar ist, ungeachtet dessen, ob sie auf absurden Annahmen über die Beschaffenheit der Welt beruht.[iv] In der Tat, was kümmert es uns, ob sich jemand im persönlichen Leben an astrologischen Erkenntnissen orientiert, obwohl die Astrologie vermutlich epistemisch wertlos ist?

Ich bin mit Nussbaum in der Hinsicht einverstanden, dass Personen mit nicht-rationalen weltanschaulichen Positionen „respektiert“ werden sollen. Dies gilt auch für den schulischen Kontext, wo niemand aufgrund seiner religiös-weltanschaulichen Positionierung lächerlich gemacht und marginalisiert werden sollte. Allerdings stellen sich hier zwei Fragen:

1. Heisst das auch, dass Lernende gar nicht erst in diskursive Praktiken eingeführt werden sollten, in denen ihre persönlichen Auffassungen auf den Prüfstand gestellt werden?

2. Es ist eines, im persönlichen Leben auf rationalistische Standards zu verzichten, aber etwas anderes, sich im politischen Diskurs um Evidenz und gute Argumente zu foutieren. Welche Rolle also sollen epistemische Standards in der Bildung Heranwachsender zu Staatsbürgern und -bürgerinnen spielen?

Selbst wenn man sich im politisch-liberalen Rahmen dagegen ausspricht, Lernende zur rationalen Prüfung ihrer eigenen Auffassungen anzuleiten (die erste Frage), scheint es unhaltbar, diese Sichtweise auch auf politisch relevante Themenbereiche zu beziehen (die zweite Frage). Im demokratischen Diskurs ist es inakzeptabel, wenn Bürger und Bürgerinnen einfach zugängliche Evidenz und offensichtliche Argumente in den Wind schlagen und auf ihren epistemisch falschen Auffassungen beharren.[v]

Für den schulischen Kontext bedeutet dies, dass bestimmte Tatsachenwahrheiten (z.B. zum Klimawandel oder zum Holocaust) in direktiver Weise zu unterrichten sind. Wichtiger noch ist aber der pädagogische Auftrag, die Offenheit für Evidenz und Argumente zu fördern. Hier nämlich orte ich das Grundproblem in denjenigen politischen Debatten, die Drerup im Blick hat: Manche der Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesen Debatten scheinen in spezifischer Weise „unvernünftig“ zu sein, insofern sie gegenüber Evidenz, die ihren Auffassungen zuwiderläuft, immun zu sein scheinen. Diese Immunität mag teils mit mangelndem Wissen oder mangelnden kognitiven Fähigkeiten zusammenhängen, ergibt sich aber oftmals aus problematischen Einstellungen – z.B. übermässiger und unkritischer Loyalität zu einer Gruppe oder einem Anführer und/oder rassistischen, antisemitischen, sexistischen oder homophoben Einstellungen.[vi]

Im Falle der Leugnung des Holocaust sind antisemitische Motive leitend dafür, dass Evidenz nicht in Betracht gezogen wird. Die Ablehnung wissenschaftlicher Einsichten zum Klimawandel ist nicht direkt durch Einstellungen motiviert, die mit liberalen Ideen in Konflikt stehen. Hier scheinen ideologische Fixierungen eine Rolle zu spielen sowie Einstellungen, die im aktuellen amerikanischen Diskurs als „tribalistisch“ bezeichnet werden: Man identifiziert sich auf Biegen und Brechen mit der eigenen politisch-kulturellen Gruppe und ist nicht bereit, die Argumente der Gegenseite auch nur in Betracht zu ziehen.

Ein direkter Unterricht in diesen Fragen sollte zugleich diskursiv ausgerichtet sein, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen sollten die direktiv vermittelten Inhalte diskursiv gerechtfertigt werden, zum sollte der Unterricht das grundsätzliche Ziel verfolgen, Lernende in diskursive Praktiken einzuführen. Ein solcher Unterricht wird offen für Kontroversen sein, insofern es Lernenden stets möglich sein wird, Einwände gegen das vorzubringen, was direktiv vermittelt wird. Die Toleranz gegenüber Schülern und Schülerinnen mit abweichenden Meinungen kommt dort an ihre Grenzen, so diese immun gegenüber Evidenz und Argumenten erscheinen. In pädagogischer Perspektive wird man versuchen, diese Schülerinnen und Schüler nicht aus dem Diskurs auszugrenzen, sondern sie – soweit möglich – für ihre Aussagen zur Verantwortung zu ziehen und sie für die Relevanz guter Gründe zu sensibilisieren. Ihre schulische Redefreiheit hört dort auf, wo sie rein provokative Ziele verfolgen und/oder ihren Aussagen andere Lernende oder die Lehrperson beleidigen oder abwerten.

Wie verhalten sich diese Überlegungen zum Vorschlag Drerups, das epistemische mit dem politischen Kriterium zu verbinden? Während Drerup diese als komplementär behandelt, gehe ich von einem politisch-liberalen Kriterium aus und bringe in einem zweiten Schritt epistemische Erwägungen ein. Gemäß politisch-liberalen Vorgaben sollte die öffentliche Schule kein rationalistisches Weltbild propagieren und nicht-rationale Konzeptionen des Guten nicht abwerten. Trotzdem kann politisch-liberale Bildung meiner Auffassung nach nicht auf epistemische Standards verzichten, da der politische Diskurs ohne das Bemühen um eine gemeinsame Faktenbasis nicht geführt werden kann.


Johannes Giesinger, Dr. phil, geb. 1972, unterrichtet Philosophie an der Kantonsschule Sargans (Schweiz) und ist affiliierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er befasst sich vorwiegend mit Fragen der Erziehungsphilosophie und der Ethik der Kindheit.


[i]       Michael Hand, What Should We Teach as Controversial? A defense of the epistemic criterion, Educational Theory 58 (2/2008), 213–228. https://doi.org/10.1111/j.1741-5446.2008.00285.x

[ii]      John Rawls, Political Liberalism, New York: Columbia University Press 1993.

[iii]      Martha Nussbaum, Perfectionist Liberalism and Political Liberalism, Philosophy and Public Affairs 39(1/2010): 3–45. https://www.jstor.org/stable/41301860

[iv]      Kritisch dazu auch Johannes Drerup, Education for Democratic Tolerance, Respect and the Limits of Political Liberalism, Journal of Philosophy of Education (im Erscheinen). https://doi.org/10.1111/1467-9752.12337

[v]      Dies scheint Nussbaum im Grundsatz anzuerkennen, wenn sie schreibt (Perfectionist Liberalism and Political Liberalism, S. 39): „[Teachers] may certainly say that in contexts where citizens of many different views debate about fundamental matters, rational argument is crucial.“

[vi]      Diese Überlegungen sind inspiriert von Miranda Frickers Ausführungen zu stereotypisierenden Vorurteilen in:  Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing, Oxford: Oxford University Press.

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