12 Jun

Respekt und Kontroversität: Eine liberal perfektionistische Replik auf Johannes Giesinger

von Johannes Drerup (Freie Universität Amsterdam & Koblenz-Landau)


Dissens ist konstitutiv für liberale Demokratie und Dissensfähigkeit und Dissenstoleranz sind zentrale demokratische Tugenden. Die Frage nach den legitimen Grenzen von Dissens und Toleranz steht auch im Zentrum der Debatte über die angemessene Bestimmung von Kriterien für das, was im schulischen Unterricht legitimer Weise als kontrovers (oder nicht kontrovers) zu diskutieren ist.

Johannes Giesinger hat kürzlich in diesem Block eine Replik auf meine Überlegungen zur Kontroverse über Kontroversitätsgebote verfasst, für die ich dankbar bin, da sie sich auf (Anschluss-)Probleme meiner Argumentation bezieht, die bedenkens- und diskussionswürdig sind. Giesingers Replik verweist u.a. auf zwei pädagogisch-politische Grundprobleme und -spannungen in der Kontroverse über Kontroversitätsgebote, die ich im Folgenden näher erläutern werde. Hierzu gehört erstens die Frage, ob und inwieweit der Geltungs- und Anwendungsbereich des epistemischen und des politischen Kriteriums in pädagogischen Kontexten sinnvoll auf politische und unmittelbar politisch relevante Fragen beschränkt werden kann und soll, und was ggf. daraus für den Umgang mit den persönlichen Auffassungen des Guten der Schüler_innen folgt. Damit verbunden sind Probleme und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Vorwurf einer Aufoktroyierung partikularer, kontroverser Konzeptionen des Guten im Rahmen von curricularen Vorgaben durch Lehrer_innen gegenüber Schüler_innen und deren Eltern, die diese Konzeptionen nicht teilen. Hiermit eng verknüpft sind zweitens Fragen nach der normativen Grundlage und der Begründung von politischem Respekt als Erziehungs- und Bildungsziel im öffentlichen Schulsystem.

Zum Geltungs- und Anwendungsbereich des politischen und des epistemischen Kriteriums

In meinem Beitrag hatte ich argumentiert, dass die Frage, was jeweils im Unterricht kontrovers diskutiert werden soll und was nicht, durch eine Kopplung eines epistemischen mit einem politischen Kriterium beantwortet werden sollte. Über Positionen, die offensichtlich mit Grundwerten liberaler Demokratie inkompatibel sind (etwa rassistische Positionen) oder die auf sachlich falschen oder unsinnigen Behauptungen beruhen (etwa bestimmte Verschwörungstheorien), sollte nicht kontrovers, d.h. mit offenem Ausgang, diskutiert und unterrichtet werden. Hier gilt es direktiv zu unterrichten. Fragen hingegen, die unterschiedliche, vernünftige Positionen zulassen (wie etwa Fragen einer angemessenen Migrationspolitik) , sollten offen und nicht direktiv diskutiert und unterrichtet werden. Während eine radikale Politisierung epistemischer Fragen, so meine Annahme, postfaktisch orientierten Ideologemen Tür und Tor öffnet, kommen kritische Öffentlichkeit in liberalen Demokratien und ein entsprechend orientiertes öffentliches Schulsystem nicht ohne eine epistemische Einhegung politischer Kontroversen aus. Der Respekt vor der Differenz zwischen Tatsachen und bloßen Konstruktionen, zwischen bloßer Ideologiedurchsetzung und rational begründeter gemeinsamer Deliberation markiert idealiter einen zentralen Unterschied zwischen der politischen Kultur und Öffentlichkeit in diktatorischen Systemen und liberalen Demokratien.

Giesinger geht ebenfalls davon aus, dass epistemische Standards und Begründungspflichten einen legitimen Platz haben sollten im Rahmen demokratischer Erziehung und Bildung, um die Partizipations- und Diskursfähigkeit von Kindern als (zukünftigen) Staatsbürgern zu gewährleisten. Dies dürfe jedoch nicht auf die Durchsetzung eines perfektionistisch begründbaren z.B. rationalistischen Weltbilds hinauslaufen, welches davon ausgeht, dass entsprechend orientierte Lebensformen anderen, z.B. eher traditionalen Auffassungen des guten Lebens überlegen sind und daher vorzuziehen sind. Es gelte Offenheit für Evidenz und Argumente zu fördern zwecks Sicherstellung eines angemessenen politischen Diskurses, ohne dadurch ggf. irrationale, aber politisch harmlose private Überzeugungen von Kindern (bzw. deren Eltern) zu übergehen. An diesem Punkt scheiden sich die Geister in der Debatte zwischen politisch liberalen und liberal perfektionistischen Konzeptionen einer politischen Philosophie der Erziehung und Bildung. Vertreter politisch liberaler Konzeptionen wie Giesinger gehen davon aus, dass die auch durch das Bildungssystem zu gewährleistenden epistemischen und politischen Voraussetzungen eines angemessenen Zusammenlebens in liberalen Demokratien begründet und praktisch durchgesetzt werden können und müssen, ohne auf kontroverse Prämissen zurückzugreifen, die aus Sicht mancher noch als vernünftig geltender Akteure als illegitime Oktrois angesehen werden könnten. Perfektionistische Liberale, wie ich selbst, gehen dagegen davon aus, dass der pädagogische und politische Preis hierfür zu hoch ist, da das Spektrum der in diesem Rahmen als vernünftig deklarierten Positionen zu weit gefasst wird. Um eine demokratische Kultur und an demokratischen Grundwerten orientierte Lebensformen auch über das Schulsystem zu fördern, kann es aus dieser Sicht durchaus legitim sein, die Forderungen und Vorstellungen noch als im ethischen Sinne vernünftig geltender religiöser Eltern zu übergehen (die ihre Kinder z.B. von bestimmten Unterrichtsfächern abmelden wollen, da diese nicht mit ihren Lebensdoktrinen zu vereinbaren sind). Ich gehe außerdem davon aus, dass personale Autonomie im Verbund mit auch auf die persönliche Lebensführung von Schüler_innen bezogenen Rationalitätsstandards durchaus legitime Ausgangspunkte und Grundlagen einer Rechtfertigung von demokratischer Erziehung und Bildung im liberalen Staat sind.

Ich bin deshalb erstens skeptisch bezüglich der Möglichkeit und Angemessenheit einer Zu- und Einordnung politischer, moralischer und epistemischer Fragen entlang der Duale privat/öffentlich und persönlich/politisch. Es sind in vielen Fällen epistemisch-politische Laster und Untugenden[2], die auch in privaten Glaubenssätzen und Doktrinen wurzeln, die zu politischer Intoleranz beitragen. Zu denken wäre hier an Formen eines privatim kultivierten Dogmatismus oder an die Herausbildung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen im Kontext von Familien.[3] Will man diesen pädagogisch etwas entgegensetzen, wird man sie nicht per se unter epistemischen Artenschutz stellen können und sollte dies auch nicht. Schüler_innen sollten lernen und damit leben lernen, dass politischer Respekt mit begründeter Kritik – auch von vermeintlich rein privaten Glaubenssätzen – in einer liberalen Demokratie kompatibel ist. Gerade radikale Protagonisten forcierter Empfindsamkeit bezüglich der Infragestellung privater und ggf. indirekt politisch relevanter Auffassungen arrangieren häufig aus politischen Gründen Anlässe zur Intoleranz und zur identitätspolitischen Selbstmobilisierung und Selbstimmunisierung gegen Einwände. Der Rückzug aus dem Raum der Gründe, der wohlbegründeten Geltungsansprüche und Begründungspflichten in das Reich des `Privaten´ läuft nicht nur im schulischen Kontext in den allermeisten Fällen nicht auf – epistemologisch oder politisch – sinnvolle Argumentationen und einen angemessenen Umgang mit kontroversen Fragen hinaus . Stattdessen rekurriert man auf rhetorische Stoppformeln (wir machen das immer schon so; ich persönlich sehe es eben so etc.) und vermeidet so argumentative Auseinandersetzungen. Dies bedeutet nicht, dass das Private per se öffentlich oder politisch ist oder zu sein hat, oder dass im Unterricht die `ganze Persönlichkeit´ adressiert werden müsste oder sollte. Es bedeutet nur, dass es bei der Diskussion kontroverser Fragen nicht immer möglich sein wird (und auch nicht sein muss), zwischen Privatem und Politischem zu trennen.

Ich bin zwar zweitens prinzipiell einverstanden mit der politisch liberalen Vorgabe, dass Schulen nicht ein rationalistisches Weltbild in dem Sinne doktrinär durchsetzen sollten, dass davon ausgegangen wird, dass sich alle Lebensfragen am besten und allein durch rationale Deliberation lösen lassen. Anzunehmen (und zu hoffen) ist dennoch – und dies ist nicht mit der Durchsetzung eines rationalistischen Weltbildes im oben genannten Sinne gleichzusetzen –, dass die öffentliche Schule zumindest einer gewissen rationalistischen Bias unterliegt – dafür ist sie schließlich (auch) da. Aus liberal-perfektionistischer Sicht wird man von der Vorgabe ausgehen, dass es zu den Aufgaben der Schule gehört, Kinder dazu in die Lage zu versetzen , sowohl ihre privaten als auch ihre politisch relevanten Glaubenssätze und Meinungen einer rationalen und kritischen Prüfung zu unterziehen. Diese Vorgabe, die nicht mit einer durchgängig rationalen Lebensführung oder szientistischen Weltanschauung zu identifizieren ist, lässt sich dadurch rechtfertigen, dass es für Kinder, die diese Fähigkeit nicht haben, schwieriger sein wird ein gutes politisches und privates Leben zu führen. Wer nie gelernt hat, sich von tradierten Vorgaben der Lebensführung zu distanzieren , oder wer auf dem eigenen autoritär fixierten Selbst-, Welt- und Sozialverhältnis irritationslos beharrt, wird in beiden Domänen, der privaten und der politischen, Schwierigkeiten bekommen bzw. Probleme schaffen. Es reicht daher nicht aus, bloß auf spill-over Effekte von der einen in die andere Domäne zu hoffen: Beide sind, so die empirische Annahme, im sozialisatorischen und pädagogischen Prozess nur analytisch trennbar.

Um die Fallstricke eines faulen, da begründungsabstinenten Subjektivismus (man kann es so sehen oder eben auch anders…) zu vermeiden, ist es außerdem drittens sinnvoll mit Michael Hand prinzipiell, wenn auch nicht in allen Fällen, davon auszugehen, dass sich normative Streitfragen – unabhängig davon , ob sie nun primär privater oder öffentlicher Natur sind bzw. in einem privaten oder öffentlichen Kontext diskutiert werden – im Rahmen von rationaler Diskussion und mit Rekurs auf Fakten beilegen lassen. Politische und moralische Auffassungen können sich, sofern sie auf empirisch falschen und/oder (alltags-)theoretisch unsinnigen Annahmen beruhen, als unangemessen oder unrichtig erweisen lassen. Diese Annahme sollte auch in der Diskussion mit Schüler_innen leitend sein. Die von Nussbaum[4] vertretene Position ,wonach alle möglichen, auch vollkommen un- und irrsinnigen Doktrinen, irgendwie noch im ethischen Sinne vernünftig und allein deshalb respektwürdig sind, mag eine partiell sinnvolle strategische Vorgabe zur Einhegung politischer Konflikte sein, für einen pädagogisch angemessenen Umgang mit kontroversen Fragen taugt sie nicht. Auch in klaren Fällen sollte zwar grundsätzlich, da bin ich mit Giesinger einig, die jeweilige Position diskursiv gerechtfertigt und die Möglichkeit des begründeten Widerspruchs offengehalten werden. Problematisch wird ein solcher Widerspruch jedoch dann, wenn er nur strategisch genutzt wird, um das Spektrum noch als kontrovers zu diskutierender Positionen auszuweiten und so illiberalen und empirisch falschen Positionen Raum im Klassenraum zu verschaffen. Diese Expansionsstrategie, z.B. über bestimmte Verschwörungstheorien oder Formen des kontinuierlichen Tabubruchs, zielt häufig nicht allein auf die Durchsetzung bestimmter politischer Positionen, sondern auch auf eine mehr oder weniger radikale epistemische Verunsicherung, die den politischen und den privaten Bereich in gleicher Weise erfassen kann und soll. Es geht darum, den Adressaten den epistemischen Boden unter den Füßen wegzuziehen und künstlich politischen Dissens zu stiften, um auf dem so bereiteten irrationalen Feld Platz zu machen für ideologische Vereinnahmungen. Auch hier wird nicht säuberlich zwischen den privaten und den politischen Auffassungen unterschieden, ebenso lässt sich auch die Förderung und Kultivierung epistemischer Tugenden[5], die dieser Strategie entgegengesetzt werden können, nicht strikt auf bestimmte Domänen eingrenzen. So wie politische Toleranz und soziale Toleranz (im personalen Nahbereich) empirisch eng miteinander verbunden sind[6], so sollte daher auch von Anfang an die Initiation von Schüler_innen in Standards öffentlichen Vernunftgebrauchs an dem doppelten Ziel der personalen und politischen Autonomie orientiert sein.

Respekt als Autonomieblockade

Wie sich dieses übergreifende allgemeine Rationale dann praktisch in den schulischen Alltag übersetzen lässt, lässt sich natürlich nicht im Sinne einer simplen exercise in deduction entscheiden, sondern nur kontextspezifisch auf Basis pädagogischer und politischer Urteilskraft und sozialwissenschaftlich ausgewiesener Expertise.[7] Dies gilt auch für die angemessene Beantwortung der Frage, was in diesem Rahmen jeweils unter politischem Respekt im Unterricht zu verstehen ist und wie sich dies praktisch äußern soll. Ich bin mit Giesinger einig, dass Schüler_innen (als Personen) nicht auf Grund wohlmöglich irrationaler Glaubenssätze abgewertet werden sollten. Dass sie sich, sofern eine bestimmte Doktrin konstitutiv für ihre Identität ist, beleidigt fühlen könnten, wenn diese Doktrin kritisch auf den Prüfstand gestellt und kontrovers diskutiert wird, kann jedoch nicht in jedem Fall vermieden werden. Respekt bedeutet aus liberal perfektionistischer Perspektive ohnehin nicht, bestimmte Vorstellungen und Glaubenssätze per se von Kritik und Reflexion auszunehmen, sondern im Gegenteil die Adressaten zur kritischen Selbstreflexion zu befähigen, unabhängig von den Inhalten und der Domäne, auf die sich dies beziehen könnte.[8] Dies kann nicht und soll nicht auf eine Form der Dauertribunalisierung hinauslaufen, sondern es soll die grundsätzliche Fähigkeit zur kritischen Selbst- und Weltreflexion durch den Umgang mit fachspezifischen Inhalten und durch die Usancen der diskursiven Interaktion im Klassenraum gefördert werden. Bestimmte Aspekte der Lebensführung auf Grund von (in der Regel elterlicher) Vorstellungen einer angemessenen Lebensführung von Reflexion und Kritik auszunehmen, ist gerade nicht Ausdruck von Respekt. Giesingers Konzeption eines erweiterten politischen Liberalismus, der in zentraler Hinsicht von Rawls und Nussbaums Konzeptionen abweicht, kommt interessanter Weise zu einer ganz ähnlichen Schlussfolgerung, aber auf einem anderen, eben politisch liberalen rechtfertigungstheoretischen Weg, der kontroverse Vorgaben (z.B. Autonomie als Lebensideal) und deren pädagogische Privilegierung zu vermeiden versucht.[9] Ich denke dagegen, dass eine pädagogisch angemessene und auf die politische Funktion von Schule abgestimmte Beantwortung der in diesem Zusammenhang relevanten Fragen (Warum Respekt? Respekt für was? Wie soll sich Respekt praktisch ausdrücken?) nicht ohne Rekurs auf epistemische und autonomieethische Prämissen auskommen kann, die sich nicht mehr ohne weiteres im Rahmen eines politischen liberalen Rechtfertigungsmodells werden unterbringen lassen.[10] Man wird nicht darum herumkommen, will man personale und politische Autonomie pädagogisch fördern, autonomiebasierte Lebensformen zu privilegieren und muss dies auch gegenüber Schüler_innen rechtfertigen können – das ist in der Logik der pädagogischen Umgangs- und Beziehungsformen, die auf eine solche Förderung gerichtet sind (z.B. rationale Argumentation, Infragestellung tradierter und unreflektierter Prämissen der Selbstverständigung), selbst begründet. Dies ist nicht als eine (begriffs-)essentialistische Option zu verstehen, die davon ausgeht, dass abweichende pädagogische Praktiken nicht unter dem Terminus Erziehung subsumiert werden können, sondern als eine auf empirischen und anthropologischen Annahmen beruhende normative Position, die davon ausgeht, dass richtige und angemessene Erziehungspraktiken sich durch eine solche autonomieorientierte Struktur auszeichnen. Diese sind deshalb `richtiger´ und `angemessener´ als eher traditionale Praktiken, weil sie, so die empirische Annahme, es in modernen Gesellschaften Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit erleichtern ,ein gutes Leben zu führen, und es, so die anthropologische Annahme, besser für Schüler_innen ist ,die Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensmodellen zu haben und ein kritisch-reflexives Verhältnis zu diesen auszubilden, als diese Möglichkeiten vorenthalten zu bekommen. Von dieser Warte betrachtet kann der sich in westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten abzeichnende Wandel der Erziehungsvorstellungen und -praktiken (in Richtung autonomieorientierter und egalitärer Erziehungspraktiken und -ziele) als pädagogischer Fortschritt angesehen werden. Heute wird alles in allem nicht nur anders erzogen als z.B. in den 1950er Jahren, sondern auch besser. Um diesen Trend auch weiter zu gewährleisten und zu fördern, wird es nötig sein, liberal-demokratische Erziehungs- und Bildungsideale auch zukünftig über das Schulsystem durchzusetzen, auch gegen den Willen mehr oder weniger vernünftiger oder besorgter Eltern und Bürger, die sich hierdurch ggf. beleidigt oder marginalisiert fühlen könnten.

Fazit

Die derzeit zurecht diagnostizierte zunehmende politische Polarisierung manifestiert sich auch in Debatten über die angemessene Einrichtung und legitime Gestaltung des öffentlichen Schulsystems. Erziehung und Bildung in und für Demokratie müssen gewährleisten, dass künftige Staatsbürger_innen lernen, trotz ihrer Differenzen respektvoll miteinander umzugehen und auszukommen, und auch die epistemischen und politischen Voraussetzungen und Einstellungsmuster fördern, die für sinnvolle politische Kontroversen notwendig sind. Wie diese beiden Ziele erreicht werden können und wie dies zu rechtfertigen wäre, ist politisch und pädagogisch auch deshalb umstritten, weil sie – wie die Debatte zwischen politischem Liberalismus und liberalem Perfektionismus zeigt – miteinander konfligieren können. Aus liberal perfektionistischer Sicht wird man der zweiten Aufgabe ein stärkeres Gewicht beimessen, während man aus politisch liberaler Perspektive dazu tendiert, mit Bezug auf die erstgenannte Aufgabe einen größeren Spielraum zuzulassen, um perfektionistisch begründbare Oktrois zu vermeiden. Respekt für einen weit gefassten `vernünftigen Pluralismus´ bedeutet jedoch auch Respekt für eine Pluralität der Irrationalitäten, was mit der pädagogischen Kultivierung demokratisch-liberaler Einstellungsmuster und Lebensformen nicht ohne weiteres zu vereinbaren ist.


Johannes Drerup ist Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam und vertritt eine Professur für Erziehungs- und Bildungsphilosophie an der Universität Koblenz-Landau.


[1] Giesinger, J. (2019):

Zur Kontroverse um das Kontroversitätsgebot: Ein politisch-liberales Kriterium
(Zugriff am 04.06.2019)

[2] Cassam, Q. (2019): Vices of the mind. Oxford: Oxford University Press.

[3] Rapp, V. (2014): Toleranz gegenüber Immigranten in der Schweiz und in Europa. Wiesbaden: Springer VS. Zur Theorie und Empirie der autoritären Persönlichkeit: Brumlik, M. 2018: Demokratie und Bildung. Berlin: Neofelis. Gordon, P. (2018): The Authoritarian Personality Revisited. In: Brown, W./Gordon, P./Pemsky, M. (Hrsg.): Authoritarinism. Chicago, London: University of Chicago Press, S. 45-84.

[4] Nussbaum, M. (2011): Perfectionist liberalism and political liberalism. Philosophy and Public Affairs, 39(1), S. 3–45.

[5] Drerup, J. (2019): Education, Epistemic Virtues, and the Power of Toleration. In: Critical Review of International Social and Political Philosophy (CRISPP): https://doi.org/10.1080/13698230.2019.1616883

[6] Mater, D./ Tranby, E. (2014). New dimensions of Tolerance: A Case for a Broader, Categorical Approach. sociological science 1, S. 512-531.

[7] Levinson, Meira/Fay, Jacob (2019): Democratic Discord in Schools. Cambridge, MA: Harvard Education Press.

[8] Siegel, H. (2017): Education´s Epistemology. Oxford: Oxford University Press.

[9] Z.B. Giesinger, J. (2019): Sexistische religiöse Erziehung in der Familie: Öffentliche Rechtfertigung und die Grenzen elterlicher Autorität. Online: http://www.erziehungsphilosophie.ch/publikationen/Sexistische-religioese-Erziehung-Bern19.pdf (Zugriff am 04.06.2019)

[10] Dies ist wohl auch ein Grund dafür, warum ein Großteil der deutschsprachigen bildungstheoretischen Tradition, die in vielen Fällen von starken autonomietheoretischen, anthropologischen und konzeptuellen Annahmen über die normative Struktur von `wahrer´ Bildung ausgeht, im Grunde fast durchweg eine perfektionistische Tradition darstellt. Giesinger ist es zu verdanken, die damit verbundenen Rechtfertigungsprobleme als einer der ersten im deutschsprachigen Raum systematisch rekonstruiert und zur Diskussion gestellt zu haben, eine Diskussion die in einer pluralistischen Gesellschaft, wie Deutschland, im Grunde längst überfällig war.

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