23 Mai

Bildung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit

von Sabrina Schröder und Charlotte Spellenberg (Halle-Wittenberg)


Studierende der Erziehungswissenschaften können in Einführungsveranstaltungen das Pech haben, mit einer marktlogisch geführten Uni konfrontiert zu sein, die auf Problemlösung statt auf Problematisierung setzt und ihnen hinsichtlich der eigenen Wissens- und Kompetenzbildung das Blaue vom Himmel verspricht. Wenn ‚Bildung‘ so als „Marschgepäck“ (Schwanitz 1999, 8) verkauft wird, wird sich in den Vorlesungen, Seminaren und Diskussionen dann auch die Frage nach deren ‚Mehrwert‘ einstellen. Demgegenüber klingt ein Satz wie: „Das Schlimmste, was Ihnen im Studium passieren kann ist, dass Sie dieselbe bleiben“ fast schon wie eine Drohung. Das Bedrohliche bezieht sich dann nicht auf die Frage, inwiefern man in der Lage ist, ein ‚zur Verfügung stehendes Wissen‘ für sich selbst effektiv ‚verwertbar‘ zu machen, sondern auf die Möglichkeit, das Unvorhersehbare auszuhalten. Die Forderung ‚nicht dieselbe zu bleiben‘ ließe sich so übersetzen in einen unmöglichen Anspruch, der mit der Potenzialität der Bildung zu tun hat: Es geht darum, offen zu sein für etwas, von dem man nicht weiß, ob es sich ereignet.

Im Bildungsfragment von Humboldt lässt sich nachvollziehen, dass Bildung mit einer Veränderung der Welt-, Selbst- und Anderenbezüge einhergeht, dass nichts so bleiben kann, wie es ist, wenn der Mensch in eine auf Wechselwirkung beruhende Beziehung mit der Welt tritt (vgl. Humboldt 2002, 235f.). Diese Beziehung wird einerseits ermöglicht durch eine Potenzialität im Subjekt, die Humboldt ‚Kraft‘ nennt und zugleich durch die Begegnung mit ‚Gegenständen‘, die außerhalb seiner selbst liegen – diese Gegenstände nennt Humboldt ‚Welt‘. Seine Kräfte kann der Mensch nur entfalten und stärken, wenn er in Konfrontation und Auseinandersetzung mit der Welt tritt und damit sein Potenzial verwirklichen, d.h. sich in den Modus der Veränderung begeben kann.  

Im Anschluss an Humboldt hat bspw. Koller (2011) formuliert, dass sich dieses Transformationsgeschehen als Änderung von Habitus, also Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster verstehen lässt. Die Veränderung ist damit ganz grundlegender Art; sie folgt nicht einfach einer progressiven Entwicklungs- oder Optimierungslogik, im Sinne einer Anreicherung von Erfahrungen oder Akkumulation von Wissen. Es geht um mehr und anderes.

Mit Bildung geht es um die Annahme, dass man durch die Auseinandersetzung mit etwas Neuem/Anderen/Fremden sich selbst verändert, dass man sich selbst und die Welt mit anderen Augen (und) anders sieht. In Wechselwirkung mit der ‚Welt‘ zu stehen heißt dann, sich ganz grundlegend darauf ‚einzulassen‘, die Andersheit/ Fremdheit der Situationen, Gegenstände, Menschen nicht auf bereits Bekanntes reduzieren und alles überblicken, durchschauen und verstehen zu können. Statt der Vorstellung einer Verfügungsmacht über das/den Andere_n, geht es vielmehr darum, sich selbst infrage stellen zu können, die eigene Sicht der Dinge und damit sich selbst aufs Spiel zu setzen, das bisherige Verständnis des eigenen Selbst in der Welt brüchig werden zu lassen.

Neuere bildungstheoretische Einsätze verweisen in diesem Zusammenhang besonders auf die Seite der ‚Welt‘ in der Wechselwirkung und betonen damit Anlässe, die den Bruch provozieren können: Erfahrungen der Negativität bzw. des ‚Fremden‘, die als Irritationen eine Unterbrechung des ‚Bisherigen‘ zu evozieren vermögen. Bildungs- bzw. Transformationsprozesse sind dann ‚kriseninduziert‘.

Mit der bildungstheoretischen Betonung des Bruches geht dann auch einher, dass im Vollzug von (bildenden) Erfahrungen etwas durchgemacht und nicht etwas hergestellt wird: „Erfahrung wird als ein Vorgang begriffen, der weniger mit Bereicherung und Erweiterung als vielmehr mit Verlust und Wandel zu tun hat“ (Thompson 2009, 415; vgl. auch Waldenfels 1997, 19). Während mit Platons Höhlengleichnis diese Erfahrung schon oft als schmerzvoll und beängstigend beschrieben worden ist, kursieren Ratgeber wie „101 Dinge, die man getan haben sollte, bevor das Leben vorbei ist“ (Horne 2005), welche Erfahrungen herzustellen oder auch zu technologisieren versprechen, als seien sie kontrolliert handhabbar: Ich weiß, dass ich eine Erfahrung gemacht habe, wenn ich diese an entsprechender Stelle auf der der To-Do-Liste „abhaken“ kann.

Mit Schäfer kann eingewendet werden, dass eine solche Vorstellung der Verfügungsmacht über die Erfahrungen eine „objektivierende Einstellung zur Welt“ voraussetzt (Schäfer 2017, 175). Mit Adorno (ebd., 167ff.) betont er, dass es demgegenüber darauf ankommt, sich ernsthaft auf den Umstand einzulassen, dass die eigenen Sichtweisen auf sich selbst und die Welt diese niemals endgültig und gänzlich identifizieren können. Fremd bleiben Selbst, Welt und Andere – und zwar auch im Versuch ihrer Aneignung. Man muss sich damit von der Idee der Souveränität des sich bildenden Subjekts verabschieden, auch davon, dass nach der Erfahrung eines solchen Bruches eine ‚Rückkehr aus der Entfremdung‘ in dem Sinne möglich wäre, dass man entsprechend zur ‚bisherigen‘ Auffassung von sich und der Welt, nun einfach um ‚eine Erfahrung reicher‘, zurückkehren könnte. Als bildend lassen sich nur diejenigen Erfahrungen verstehen, die von der ‚doppelten Fremdheit‘ gekennzeichnet sind: der Welt und sich selbst gegenüber.

Mit dem „Vorrang des Objekts“ beschreibt Adorno diese doppelte Fremdheit im Sinne einer Nachträglichkeit des Subjekts und der Nichtidentität des zu identifizierenden Objekts: Die Nachträglichkeit des Subjekts meint, dass die Kategorien, Begriffe, Muster, mit denen ein Subjekt sich selbst und die Welt wahrnimmt, insofern immer schon (vor-)gegebenen sind, als sie der dem Subjekt vorausliegenden symbolischen Ordnung der Sprache entlehnt sind. So gesehen bleibt man sich selbst immer ein Stück weit fremd. Sich nicht auf diese Weise fremd zu sein würde bedeuten, dass man sich außerhalb der symbolischen Ordnung zu sich selbst in ein Verhältnis setzen können und damit einen göttlichen Standpunkt einnehmen müsste – das funktioniert wohl aber zumindest für die meisten von uns nicht, denn: ‚Ich ist nicht nur ein anderer‘ (Rimbaud), sondern ‚Ich ist auch nicht Gott‘.

Die Nichtidentität des identifizierten Objekts meint, dass kein Objekt in der Welt, kein Gegenstand, kein anderes Subjekt jemals in dem eigenen subjektiv erkennenden Zugriff aufgeht. Die Welt oder der Andere entziehen sich immer auch den Begriffen und Vorstellungen, mit denen wir sie beschreiben, erkennen bzw. erfassen wollen. Immer bleibt etwas Rätselhaftes, Ungewisses und Uneindeutiges und so bleibt bei jedem Versuch der Identifikation zugleich ein Nichtidentisches, ein Fremdes.

Solcherart Erfahrungen der doppelten Fremdheit können sich in Situationen ergeben, die von Negativität geprägt sind: Erfahrungen der Enttäuschung oder Irritation, in Situationen die in dem Sinne krisenhaft sind, das man mit seinen gewohnten Mustern – des Denkens, Handelns, Wahrnehmens – nicht mehr weiterkommt.

Zurückkehrend an den Anfang unserer Überlegungen stellt sich nun die Frage, ob sich diese Art der irritierenden, krisenhaften Erfahrungen als potenzielle Anlässe einer Veränderung der Welt-, Selbst- und Anderenbezüge herstellen lassen. Um die Antwort vorwegzunehmen: wohl eher nicht. Im Anschluss an Meyer-Drawe gründen solche ‚Anfänge‘ oder Anlässe in einer „Störung eines unter anderen Umständen verlässlichen Vollzuges. Diese Störung ist ein Widerfahrnis und niemals Ergebnis eines Entschlusses. Ich kann zwar wollen, nicht gestört zu werden, aber nicht, gestört zu werden“ (Meyer-Drawe 2005, 32).

Dieser Widerfahrnischarakter verweist darauf, dass die Anlässe von Bildung – entgegen jeder technologischen Vorstellung von Erziehungs- und Bildungsprozessen – unzugänglich sind. Man kann nicht prospektiv über sie verfügen und ‚Bildung initiieren‘, Bildungsprozesse sind vielmehr der eigenen (oder fremden) Entschlusskraft mehrfach entzogen. Es gibt keinen Ort, von dem aus erstens die bisherigen Selbst- und Welt-Verhältnisse, zweitens der Anlass für die Unterbrechung derselben, drittens die Unterbrechung selbst und viertens das veränderte Selbst- und Welt-Verhältnis identifiziert werden können, wobei fünftens das veränderte Verhältnis auch noch als Wirkung der erfahrenen Unterbrechung kurzgeschlossen werden müsste. Wie bereits gezeigt: das geht nur, wenn man dem Subjekt Souveränität, Transparenz und Selbst-Transzendenz unterstellt. Nicht umsonst hat bspw. Wimmer diesen unverfügbaren Transformationsprozess zwischen dem ‚alten‘ und dem ‚veränderten‘ Verhältnis – mit dem „Weltverlust“ und ein „Entzug der Selbstsicherheit“ einhergehen – als eine Phase des „Wahns“ bezeichnet (Wimmer 2007, 101).

Sind also sowohl die Anlässe von Bildung als auch der Transformationsprozess selbst unverfügbar, können sie, bspw. in der Universität, vorstellbar gemacht werden – nicht mehr, und nicht weniger. Ich kann nicht erwarten, dass die Gegenstände meiner Umgebung (Welt) oder bestimmte Erfahrungen, die ich mache, in diesem explizierten Sinne Irritationen auslösen und mich in einen Prozess der Transformation werfen. Schließlich kann ich, wenn es denn tatsächlich so weit sein sollte, dass eine Krisensituation meine bisherigen Bewältigungsschemata außer Kraft setzt, mich zu diesem Prozess des Ausgesetztseins nicht in ein verfügendes, identifizierendes Verhältnis setzen. Mit Verweis auf das, was sich im Bezug entzieht, ist das angesprochen, was den Möglichkeitscharakter der Bildung auszeichnet.

Ausgehend von diesem Möglichkeitscharakter richtet sich der Blick statt auf das Versprechen der Herstellbarkeit von ‚Bildung‘ (wie in der Eingangsanekdote zum Kompetenzerwerb) auf die Frage nach der eigenen Provozierbarkeit: auf die Potenzialität, die eine Erfahrung der doppelten Fremdheit erst ermöglicht, auf die Offenheit für eine mögliche Erfahrung mit dem Fremden, auf das, was „uns selbst in unserer Eigenheit in Frage stellt“ (Waldenfels 1997, 18).

Bildung beginnt aus einer solchen Perspektive nicht bei einem selbst. Das Unbekannte tritt als Irritation, Widerfahrnis, als Anspruch auf, die außerhalb unserer Entschlusskraft liegen. Sie liegen unserem (gegenwärtigen) Bezug auf sie voraus und markieren ein „Getroffensein“ (Waldenfels 2002, 56), auf das aber ein Antworten potenziell möglich ist. Vergleichbar ist Bildung dann mit dem aktiv-passiven „Aufwachen“ nach dem Schlafen: „Man vollzieht einen Akt, ohne ihn selbst ausgelöst zu haben“ (Meyer-Drawe 2008, 16). Als Möglichkeitskategorie verweist Bildung so auf die Provokationen der Gegenwart, sie weist über das Bestehende hinaus auf eine prinzipiell offene Zukunft und zugleich auf die Unmöglichkeit, die Perspektiven auf und Auseinandersetzungen mit sich selbst, den Anderen und der Welt an ein Ende kommen zu lassen und diese be- bzw. umgreifend zu identifizieren. „[D]ass die Welt mir immer wieder andere Perspektiven der Auseinandersetzung bietet und dass gerade die Unmöglichkeit, diese auszuschöpfen“ das ist, was das „Proprium“ und den Möglichkeitscharakter von Bildung ausmacht (Thompson 2009, 414), sollte damit deutlich geworden sein.

Mit der Rede von ‚der Möglichkeit der Bildung‘ ist auch darauf verwiesen, was oben gemeint sein wollte mit einem ‚Offensein‘ für etwas, von dem man nicht weiß, ob es sich ereignet. Das Offensein ist als eine Möglichkeit von Responsivität zu verstehen, als Weise, auf den Anspruch des Fremden zu antworten: „Das Antworten auf den Anspruch beginnt mit dem Hinsehen und Hinhören“ so beschreibt Waldenfels das, was mit Humboldt als potenzielle „Empfänglichkeit“ zur Auseinandersetzung und Wechselwirkung mit ‚Welt‘ verstanden werden kann (Waldenfels 1997, 118f.; Humboldt 2002, 237).

Vor diesem Hintergrund wollen wir mit einer zweiten Anekdote schließen: Wenn die Frage nach dem ‚Mehrwert‘ in einen Wunsch nach einem ‚Bildungspäckchen‘, das man am Ende eines Seminars bekommen (haben) sollte, kulminiert, mag sich Enttäuschung einstellen: So sagte eine Studentin in meinem Seminar, dass der zu bearbeitende Text ihr nichts gebracht habe, weil er keine Lösung geboten, sondern nur Probleme hervorgebracht habe. Es ist interessant, wie die Studentin hier genau das bezeichnet, was fehlt, nämlich eine Antwort, die weiteres Fragen still stellt und unnötig macht. Nun mag man das auf den ersten Blick als frustrierende Erfahrung verbuchen und die Offenheit als unbefriedigend bewerten, auf den zweiten lässt sich jedoch mit Blick auf das Vorherige daran erinnern, dass die Erfahrung einer Enttäuschung offenbar genau das ist, was die Möglichkeit von Bildung überhaupt erst denkbar werden lässt. Es wäre wohl nicht das Schlechteste, wenn die Erziehungswissenschaft in diesem Sinne als eine „Irritationswissenschaft“ verstanden würde, der es darum geht, ihre Studierenden für Probleme aufzuschließen (Thompson 2017, 120).


Sabrina Schröder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsinteressen sind  u.a. erziehungswissenschaftliche Theoriebildung, Subjektivierungsforschung, pädagogische Dimensionen von Prüfungspraktiken.

Charlotte Spellenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsinteressen sind u.a. Erkenntnistheorie und Erkenntnispolitik (in) der Bildungstheorie, Fragen nach Normativität und der (Un-)Möglichkeit ihrer Begründung.


Literatur:

Horne, Richard (2005): 101 Dinge, die man getan haben sollte, bevor das Leben vorbei ist. Frankfurt/Main: Eichborn

Humboldt, Wilhelm von (2002): Theorie der Bildung des Menschen [Bruchstück]. In: Giel, Klaus/Flitner, Andreas (Hrsg.): Schriften in 5 Bänden. Band I. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 234-240

Koller, Hans-Christoph (2011): Anders werden. Zur Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse. In: Breinbauer, Ines-Maria/Weiß, Gabriele (Hrsg.): Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, S.108-123

Meyer-Drawe, Käte (2005): Anfänge des Lernens. In: Benner, Dietrich (Hrsg.): Erziehung – Bildung – Negativität. Beltz: Weinheim/Basel, S. 24-37

Meyer-Drawe, Käte (2008): Diskurse des Lernens. München: Wilhelm Fink

Schäfer, Alfred (2017): Einführung in die Erziehungsphilosophie. 2. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz Juventa

Schwanitz, Dietrich (1999): Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt/Main: Eichborn

Thompson, Christiane (2009): Gebrochene Verständigungen: Systematische Reflexionen zu Bildungspotenzialen des Praktikums. In: Pädagogische Rundschau63, H. 4, S. 411-423

Thompson, Christiane (2017): „Diesem Ding (es sey was es wolle) einen andern Namen zu geben“. Theoriearbeit in der Erziehungswissenschaft. In: Dies./Schenk, Sabrina (Hrsg.): Zwischenwelten der Pädagogik. Paderborn: Schöningh, S. 111-123

Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt/Main: Suhrkamp

Waldenfels, Bernhard (2002): Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie. Psychoanalyse. Phänomenotechnik. Frankfurt/Main: Suhrkamp

Wimmer, Michael (2007): Bildung und Wahn. Konfigurationen von Wissen und Wahn in Bildungsprozessen. In: Pazzini, Karl-Josef/Schuller, Marianne/Ders. (Hrsg.): Wahn – Wissen – Institution II. Zum Problem einer Grenzziehung. Bielefeld: transcript, S. 83-112

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