28 Feb

Über die Wegerfindung der Cancel Culture

Von Dieter Schönecker (Siegen)


Seitdem der Streit über die sogenannte Cancel Culture (CC) angefangen hat, wird immer wieder behauptet, dass es sie im Grunde gar nicht gebe; Sebastian Huhnholz [1], Steffan Lessenich [2] und Jan-Werner Müller [3] sind bekannte Vertreter dieser These. Der Stanforder Literaturwissenschaftler Adrian Daub hat nun sogar ein dickes Buch (Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst, Suhrkamp 2022) geschrieben mit dem Ziel, eben diese CC-Leugnung umfassend zu verteidigen: So etwas wie eine CC als breites, ernstzunehmendes Problem gebe es nicht oder nur „angeblich“ (eine von Daub dutzende Male gebrauchte Vokabel) und sei jedenfalls nicht belegt. Vielmehr beruhe die Debatte um CC nur, so Daub, auf „Anekdoten“ (davon ist ständig die Rede) und „Einzelfällen“ (10, 191, 281) und sei daher auch nur Ausdruck einer „moralischen Panik“ (so schon im Buchtitel), der als hysterisches Gefühl der Bedrohung in der Realität nichts entspreche; um die Realität der CC zu bezweifeln, verwendet er auch Ausdrücke wie „Mär vom zensurwütigen linken Amerika“ (18), „Fabel“ (20), „Posse“ (20), „Bagatelle“ (22), „Provinzposse“ (47), „Lappalie“ (29), „jahrzehntealte Zwischenfälle“ (29), „holzschnittartige Erzählung“ (29), „ritualisierte Wiederholung“ (37), „reißerische Neubeschreibung klassischer akademischer Auseinandersetzungen“ (47), „eklatante Banalität“ (50, 315), „Legende“ (168, 201, 203), „urban legend“ (201), „Mythos“ (201), „Folklore“ (201), „Privatmythologie“ (315), „relativ kontextfreie Beispiele“ (321). Zudem sei die CC-Debatte auch nicht neu, sondern nur eine neuerliche Variante (u. a.) der Kritik an der Political Correctness, die in Europa aus antiamerikanischen Motiven heraus importiert worden sei, um dem vermeintlichen Exporteur die Schuld zu geben.

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08 Feb

Call for Blogposts: Vereinbarkeit von akademischem Arbeiten und anderen wertvollen persönlichen Projekten

Hochschulen sind inzwischen reihenweise als familienfreundlich zertifiziert, aber das heißt nicht, dass sich die Arbeit in der akademischen Philosophie mit der Sorge um Kinder, pflegebedürftige Eltern oder andere nahestehende Personen leicht vereinbaren lässt. Vielmehr erscheint beides oft nahezu unvereinbar: Der üblichen Kitaschließzeit am Nachmittag stehen gängige Vortragstermine am Abend gegenüber; der geforderten vollen Konzentration auf den zu schreibenden Artikel die Sorge darum, dass der nächste befristete Arbeitsvertrag zur Pendelei weg von den dementen Großeltern zwingt; und der Muße, die es für kreative gute Ideen braucht, das ewige Zerren der vielen beruflichen und privaten Verpflichtungen, die einen mitunter zweifeln lassen können, ob man ohne dauernde Überstunden überhaupt konkurrenzfähig ist. Diskussionen aus dem vorigen Jahrhundert, könnte man meinen, aber für viele immer noch Realität. Zudem keine leicht zu bearbeitende, denn die Probleme sind vielfältig und entziehen sich daher oftmals einer einfachen Lösung. Beispielsweise passt der oft gemachte Vorschlag, alle Termine in die Kernarbeitszeiten zu legen, in der Regel nicht zum Wunsch pendelnder Care-Arbeitender, die ein großes Interesse daran haben, nicht unbegrenzt Zeit an ihrem Arbeitsort zu verbringen, Pendelei aber ist für viele aufgrund der langen Befristungszeiten unumgänglich.

In einer neuen Reihe auf prae|faktisch möchten wir Beiträge zu diesem Thema versammeln: Welche konkreten Probleme gibt es? Wie wirken strukturelle und individuelle Ebene hier zusammen? Welche Lösungen sind für welche Situationen erprobt? Welche Lösungen könnte man sich vorstellen, wenn Geld keine Rolle spielen würde? Und was gibt es bei dem Ganzen noch zu bedenken? 

Wir freuen uns über Einreichungen zu diesen und anderen Fragen, wobei Personen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlichster Rollen im akademischen System und unterschiedlicher Statusgruppen zu Wort kommen sollen. Erwünscht sind drei Arten von Beiträgen: Antworten auf die Frage, was schief läuft (testimonials), Antworten auf die Frage, wie es besser gehen könnte (best practise), sowie Antworten auf die Frage, wie es in einer idealen Welt besser gehen könnte (Utopie). Ggf. werden wir anonyme Beiträge möglich machen.

Die formalen Vorgaben für Blogbeiträge auf praefaktisch sind hier.

Dieser Themenblock wird von der AG Vereinbarkeit der SWIP (Society for Women* in Philosophy Germany) betreut und herausgegeben. Vorschläge für Texte bitte an Prof.in Christine Bratu schicken: christine.bratu@uni-goettingen.de.

31 Jan

Für Forschendes Lernen braucht man keinen Seminarraum

von Joschka Haltaufderheide (Potsdam) & Katja Kühlmeyer (München)


Eine typische Stellenanzeige, die über den Verteiler der medizinethischen Fachgesellschaften verschickt wird, sucht einen Postdoc für ein neues Drittmittelprojekt. Es soll um die ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen einer neuen digitalen Gesundheitsanwendung gehen. Es stellen sich sozial-empirische und ethisch-normative Forschungsfragen. Das Anforderungsprofil umfasst neben Kenntnissen der sozial-empirischer Forschung und philosophischer Theorie auch Erfahrung im interdisziplinären Arbeiten. Moment einmal – wie werden Forschende am Anfang ihrer Forschungskarriere eigentlich zu solchen komplexen Leistungen befähigt?

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16 Jan

Ein religionspädagogischer Beutelsbacher Konsens? Der Schwerter Konsent als Ergebnis einer Fachtagung

Von Jan-Hendrik Herbst (TU Dortmund)


In unterschiedlichen Fachdidaktiken gibt es eine Auseinandersetzung um den Beutelsbacher Konsens (BK), die Neutralität von schulischer Bildung und eine „Kontroverse über Kontroversitätsgebote“. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Aktualisierungen und Modifizierungen vom BK vorgenommen, u. a. im Magdeburger Manifest (Demokratiepädagogik), in der Frankfurter Erklärung (kritische politische Bildung) und im Dresdener Konsens (Philosophiedidaktik). Für Religionspädagogik und religiöse Bildung gab es ein vergleichbares Koordinatensystem bisher nicht – auch wenn der BK religionspädagogisch durchaus rezipiert wurde. Diese Rezeption erfährt dabei Impulse durch die anderen Fachdidaktiken und sie wird durch aktuelle gesellschaftliche Debatten intensiviert (z. B. durch die kontroversen Auseinandersetzung über Migrationspolitik, Coronamaßnahmen und Waffenlieferungen – allesamt Themen, die auch im Rahmen religiöser Bildung diskutiert werden). Vor diesem Hintergrund wurde im März 2022 eine religionspädagogische Tagung organisiert, die anhand konkreter und gesellschaftlicher Themen religiöser Bildung (Ökonomie, Ökologie und Antisemitismus) die Fragen rund um Kontroversität, Positionalität und Neutralität thematisierte. Eine Perspektive der Tagung war es auch, die Möglichkeit und Notwendigkeit eines religionspädagogischen BKs und seiner Ausformulierung zu diskutieren. Als Ergebnis dieser Diskussion wurde nun, am 29. September 2022, der sog. „Schwerter Konsent“ publiziert. Bewusst wurde auf den stärkeren Begriff „Konsens“ (Einigung, der alle zustimmen) verzichtet und die schwächere Bezeichnung „Konsent“ (Einigung, die niemand ablehnt) gewählt. Diese Begrifflichkeit aus der Soziokratie zeigt an, dass keine schwerwiegenden Einwände mehr vorliegen. Damit sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ähnlichen Prinzipiensets angezeigt, die den „Schwerter Konsent“ inspiriert haben.

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06 Dez

„Ampeln“ für die moralische Bewertung von Lebensmitteln

Von Norbert Paulo (Berlin)


Seit etlichen Jahren wird über die Einführung von „Lebensmittelampeln“ diskutiert. Sie sollen eine einfache und schnelle Einordnung ermöglichen, wie gesund oder ungesund ein Lebensmittel ist. Viel ist bisher nicht daraus geworden. Eine Lebensmittelampel, die anzeigt, wie ein Lebensmittel in moralischer Hinsicht abschneidet, wäre allerdings noch wichtiger. Darauf sollte die Politik sich konzentrieren.

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01 Dez

Onkomoderne. Kapitalismus und/als Krankheit.

Von Michaela Wünsch (Berlin)


Onkomoderne ist eine Sammlung von Kolumnen der Berliner Künstlerin und Autorin Christina Zück, die zuerst in der Zeitschrift von hundert erschienen. Allein der programmatische Titel legt eine Zustandsbeschreibung und -analyse gegenwärtiger Verhältnisse nahe, die sich durch selbstdestruktive Expansion, Wucherung, aber auch Pathologisierung[1] von vermeintlichen Abweichungen von der Norm auszeichnet. Zück analysiert diese Verhältnisse anhand von Ereignissen, Vorträgen, Ausstellungen, Demonstrationen, Filmen, Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten und Gebäuden, denen sie alltäglich begegnet oder die sie besucht und bezieht sich in ihren ‚Diagnosen’ auf Theorien des Akzelerationismus, Anthropozäns, Marxismus und die Psychoanalyse.

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29 Nov

Informed Consent, Vulnerabilität und algorithmische Diskriminierung

Von Hauke Behrendt (Stuttgart) und Wulf Loh (IZEW Tübingen)


Zu den größten Binsen des Digitalisierungsdiskurses der letzten Jahre gehört die Einsicht, dass personenbezogene Daten für große Digitalkonzerne wie Apple, Facebook, Amazon oder Google eine Schlüsselrolle einnehmen. Mehr noch: Für manche besitzt die Ressource Daten einen vergleichbaren Stellenwert für die Plattformökonomie des digitalen Zeitalters wie das Rohöl im ancien régime des klassischen Industriekapitalismus im 20. Jahrhundert. Die ehemalige EU-Kommissarin für Verbraucherschutz, Meglena Kuneva, stellte mit Blick auf Netzbetreiber und Großunternehmen bereits vor mittlerweile mehr als 10 Jahren fest: „Personal data is the new oil of the Internet and the new currency of the digital world“ (Speech 09/156, 31.3.2009).

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22 Nov

Bedeutung und Sprachspiel in der Fachsprache: Kann Wissenschaftskommunikation überhaupt gelingen?

Von Jonas Blöhbaum (Darmstadt)


Die Wissenschaftskommunikation scheint auf Erfolgskurs zu sein. Aber trotzdem trifft sie nicht immer ihr Ziel und was als Aufklärung gemeint war, wird oftmals als Bevormundung wahrgenommen. Besonders deutlich wurde dieses Nebeneinander von Erfolg und Scheitern in der Coronapandemie. Mit Ludwig Wittgenstein lässt sich der Blick dafür schärfen, dass Kommunikation ein Spiel ist. Der Facettenreichtum der Sprach-Spiele ist dabei sowohl eine Schwierigkeit als auch ein nützliches Werkzeug.

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17 Nov

Multiparadigmatizität in den Wissenschaften

Von Stephan Kornmesser (Oldenburg und Hannover)


In diesem Beitrag werde ich Thomas S. Kuhns These, dass in einer paradigmenbasierten Wissenschaft immer genau ein Paradigma vorherrscht, kritisieren und für die These einer multiparadigmatischen Struktur von Wissenschaften argumentieren. Ich werde zeigen, dass es Wissenschaften gibt, die erstens paradigmenbasiert funktionieren, in denen aber zweitens nicht nur ein Paradigma in einem bestimmten Zeitraum vorherrscht, sondern zwei oder mehrere Paradigmen koexistieren.

Zu diesem Zweck werde ich im ersten Abschnitt Kuhns Paradigmenbegriff skizzieren und im zweiten Abschnitt seine These der monoparadigmatischen Wissenschaft darstellen. Im dritten Abschnitt werde ich dafür argumentieren, dass es multiparadigmatische Wissenschaften gibt, und werde auf einige Fallbeispiele multiparadigmatischer Strukturen verweisen. Anschließend werde ich drei Argumente gegen die Existenz multiparadigmatischer Strukturen vorstellen und entkräften. Im vierten Abschnitt fasse ich die Ergebnisse zusammen und deute zwei Fragestellungen an, die sich aus der Existenz multiparadigmatischer Strukturen ergeben. 

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15 Nov

Sehnsucht nach Wissenschaft. Die romantische Universität

Von Markus Steinmayr (Duisburg-Essen)


Die Idee der romantischen Universität wird in unterschiedlichen Formen und Textsorten entwickelt. Es gibt Verwaltungsschriften wie Humboldts berühmte „Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ aus dem Jahre 1809. Anders blickt zum Beispiel Joseph von Eichendorff auf Sache und Funktion der Universität. In „Halle und Heidelberg“ wird die Universität zu einer romantischen Figur, die eine Bastion gegen die Zeitläufte darstellt. Andererseits, darauf hat Theodor: Ziolkowski in „Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen“bereits 1994 aufmerksam gemacht, gibt es wohl in keiner literarischen Epoche so viele studentische Helden und Passagen, die die Universität und ihre Probleme in den Mittelpunkt rücken. Schließlich ist Achim von Arnims Hollin ein Studienabbrecher, Ernst Theodor Hoffmanns Nathanael aus „Der Sandmann“ ein dem Wahnsinn verfallender Student der Physik, Anselmus aus Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldene Topf“ ein Student der Theologie. Viele firmieren als Figuren des Anti-Akademischen, in der die Frage nach der wahren Bildung verborgen liegt.

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