03 Jul

Marx’ naturalistischer Materialismus. Eine Replik auf Kurt Bayertz

von Urs Lindner (Erfurt)


In denjenigen Teilen der Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich als kritisch verstehen, hat in den letzten Jahren ein erstaunlicher Wandel stattgefunden. Wo Poststrukturalismus und Sozialkonstruktivismus über mehrere Jahrzehnte dominierten, wollen viele Autor*innen nun auf einmal ‚materialistisch’ sein. Das Versprechen, dieses Bedürfnis zu befriedigen, liefern eine Reihe ‚neuer’ Materialismen und Realismen: sei es der ‚agentielle Realismus’ von Karen Barad, der eigentlich ein Phänomenalismus im Gefolge von Berkeley und Mach ist; sei es der deuleuzianische Assemblagen-Realismus von Manuel DeLanda; seien es die feministischen Vitalismen von Jane Bennett und Elizabeth Grosz; sei es Quentin Meillassouxs rationalistisch-materialistische Kritik an Kants ‚Korrelationismus’ oder Graham Harmans Dingontologie etc.pp. Was alle diese ‚neuen’ Ansätze gemeinsam haben, ist zweierlei: 1) Sie übergehen – mit Ausnahme von DeLanda[1] – das humangeschichtlich Soziale als emergente Realitätsebene. 2) Sie wissen nicht so recht, was sie mit Marx uns seinem Materialismus anfangen sollen, der 1845 in den Thesen über Feuerbach ja auch als ‚neuer’ Materialismus angetreten war.

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17 Apr

Karl Marx und die Möglichkeit eines nichtnaturalistischen Materialismus

von Kurt Bayertz (Münster)


I. Drei Ausgangsthesen

Man kann sich der Theorie von Marx unter verschiedenen Gesichtspunkten nähern. Man kann etwa nach ihrer Tragweite für die Analyse gegenwärtiger  ökonomischer (und anderer) Krisenerscheinungen fragen. Eine solche aktualisierende Herangehensweise ist natürlich legitim. Sie setzt aber voraus, was wir bestenfalls in Ansätzen haben: Ein adäquates Verständnis der Marxschen Theorie. Ich gehe demgegenüber von der These aus, dass ein solches Verständnis erst noch zu erarbeiten ist. Dies gilt in besonderem Maße für ihren philosophischen Gehalt. – Unter Anhängern wie Gegnern ist bis heute umstritten, ob es einen solchen philosophischen Gehalt bei Marx überhaupt gibt. Hat er sich selbst nicht ausdrücklich von aller Philosophie distanziert, als er in Kooperation mit Friedrich Engels schrieb: „Philosophie & Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie & Geschlechtsliebe“[1]?

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