16 Apr

Duties of Civility? – ein Tagungsbericht

von Daniel Beck (TU Dortmund)

Das vielbeschworene Bild kriselnder, sich radikalisierender und polarisierender liberaler Gesellschaften wird wohl angesichts aktueller Umfrageergebnisse rechtspopulistischer Parteien auf absehbare Zeit ein vertrautes bleiben. Auf der Suche nach Maßnahmen zur Stärkung liberaler Demokratie ist guter Rat teuer. Warum also nicht mal bei John Rawls nachfragen?

Es muss doch im besten Fall hilfreich und im schlechtesten Fall interessant sein, das Werk eines der einflussreichsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts zu konsultieren. Diese Idee lag der von Eva Helene OdzuckSarah Rebecca Strömel und Daniel Eggers organisierten Konferenz „Duties of Civility? Rawls’s Theory of Deliberative Democracy and its Relevance in the Digital Age” zu Grunde, welche vom 11.03. – 12.03. in Regensburg unter Mitwirkung europäischer und US-amerikanischer Forscher*innen stattfand. Der erfreulich praktische Ansatz der Konferenz zog sich (überwiegend) als roter Faden durch die recht breite Auswahl an Themen, die mal abstrakter und mal direkter Bezug auf nicht-ideale Zustände jenseits der wohlgeordneten Gesellschaft nahmen.

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09 Apr

Für eine liberal-egalitaristische politische Philosophie der Familie

Von Sabine Hohl (Basel)


In der von John Rawls geprägten liberal-egalitaristischen politischen Philosophie der letzten 50 Jahre wurde die Familie lange stark im privaten Bereich verortet, so sehr dies auch von feministischen Philosoph:innen völlig zu Recht angeprangert worden ist, die stets auf die politische Relevanz der Familie hingewiesen haben. Mittlerweile hat sich dies zum Glück geändert und das Thema «Familie» hat in der Ethik und in der politischen Philosophie Hochkonjunktur und auch die feministische Kritik ist verstärkt gehört worden. Einige liberal-egalitaristische Grundannahmen haben sich allerdings in dieser Literatur bis heute noch nicht generell durchgesetzt – und noch viel weniger gilt das für die gesellschaftliche und politische Praxis. Im Folgenden schlage ich zwei methodologische Neuorientierungen vor, die dabei helfen sollen, eine stärker liberal-egalitaristisch geprägte Perspektive auf die Familie einzunehmen und letztlich auf dieser Basis auch politische Reformen vorzuschlagen. Diesen ist auch das von mir geleitete Forschungsprojekt «Just Parenthood: The Ethics and Politics of Childrearing in the 21st Century» verpflichtet, das seit 2023 an der Universität Basel läuft.

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02 Apr

Epistemische Ungerechtigkeit an Frauen in der Medizin

Von Sarah Stöhr

Ungerechtigkeit an Frauen in der Medizin weist eine beschämende Historie auf. Bereits Platon hatte Frauen aufgrund ihrer Gebärmutter bzw. der „Hysteria“ – dem altgriechischen Begriff für Gebärmutter – für verrückt erklärt. Selbst über zweitausend Jahre später werden Beschwerden von Frauen mit Freud als Hysterie abgetan. Obwohl sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges getan hat, werden die Beschwerden von Frauen teilweise weiterhin im medizinischen Bereich bagatellisiert.

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28 Mrz

Unruhig bleiben, damit sich alles ändert. Mit Haraway und Adorno für ein anderes Naturverhältnis

Von Miriam Schröder (Frankfurt)


Dass sich angesichts der Klimakatastrophe einiges, wenn nicht sogar alles, ändern muss, ist fast schon ein Gemeinplatz geworden. Aber während die einen auf technische Lösungen setzen und von einem grünen Kapitalismus träumen, sind die anderen längst einem verbitterten Zynismus verfallen. Beide Perspektiven sind für kritische Theorien, die auf ein herrschaftsfreies Zusammenleben aller zielen, lähmend. Mit Donna J. Haraway und Theodor W. Adorno lässt sich anders über diese Problemstellung nachdenken.

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21 Mrz

Elternschaft ohne Liebschaft: Co-Elternschaft und gesellschaftliche Normen

Von Johanna Rensing (Basel)


Seit einigen Jahren entstehen neue Formen von Elternschaft. Ein Beispiel dafür ist die Co-Elternschaft. Eine Co-Elternschaft unterscheidet sich von einer traditionellen Elternschaft dadurch, dass die Eltern keine romantische Paarbeziehung miteinander führen. Die Co-Elternschaft steht oft unter Generalverdacht weniger geeignet zu sein, als eine traditionelle Elternschaft, um Kinder zu erziehen. Ist die Abwesenheit einer romantischen Paarbeziehung ein Hindernis für gemeinsame Elternschaft?

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19 Mrz

Epistemische Handlungsfähigkeit in Unterdrückungskontexten: Kann Schweigen (epistemischer) Widerstand sein?

Von Hilkje C. Hänel (Potsdam)

In diesem Beitrag soll ein Fokus auf der epistemischen Handlungsfähigkeit oder Agency marginalisierter Wissender liegen; also jenen Personen, die oftmals systematisch von ungerechten epistemischen Praktiken betroffen sind. Tatsächlich betrachtet der hier gewählte Fokus, ein philosophisches Feld, dass Philosoph*innen of Colorebenso wie indigene Philosoph*innen schon seit langem bespielen. Im Folgenden wird zunächst betrachtet, wie Theorien der Handlungsfähigkeit mit Unterdrückungskontexten umgehen – und leider teilweise an deren Komplexität scheitern –, um dann zu zeigen, dass epistemische Handlungsfähigkeit als widerständige Handlungsfähigkeit auch ganz anders gedacht werden kann. Dabei kann aber selbstverständlich nur ein kleiner Einblick gegeben werden, der den Theorien, die sich mit epistemischem Widerstand auseinandersetzen sicher nicht gerecht werden kann. Hier soll vielmehr angedeutet werden, dass die Debatte um epistemische Ungerechtigkeit viel komplexer und größer ist als oftmals angenommen.

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14 Mrz

Zum Abschluss oder: das Ende der Auseinandersetzung ist erst ihr Anfang!

von Almut von Wedelstaedt (Bielefeld), Christiana Werner (Duisburg-Essen), Christine Bratu (Göttingen) und Katharina Naumann (Magdeburg)


Wir haben in den letzten Monaten auf praefaktisch eine Reihe von Blogposts zum Thema Vereinbarkeit lesen dürfen. Einige beschrieben, wie groß das Problem ist, wenn man eine wissenschaftliche Karriere oder ein philosophisches Studium mit der Sorge für Kinder oder andere Personen vereinbaren möchte oder durch eine Behinderung oder Krankheit im ewigen Wettlauf gleich etwas weiter hinten startet oder einfach im Leben noch etwas anderes möchte als immer nur zu arbeiten. Einige reflektierten über die Frage, worum es eigentlich geht, wenn es um Vereinbarkeit geht. Es wurde dabei immer wieder deutlich, wie wenig vorhandene Maßnahmen die Schwierigkeiten wirklich abfedern können. So wurden auch ganz neue Lösungen vorgeschlagen, im SWIP-Guide zur Vereinbarkeit, in Überlegungen zum Angebot akademischer Doppelkarrieren oder die schlichte Idee, einfach viel weniger zu machen, auf allen Stellen. Alle diese Beiträge gemeinsam zeigten, dass Vereinbarkeit eine Herausforderung ist und bleibt. Wir danken den Herausgeber:innen von praefaktisch, dass sie dem, was für viele Alltag ist, der aber doch irgendwie verborgen bleibt, hier im Blog Raum und Sichtbarkeit gegeben haben und das auch weiter tun werden: Es werden in loser Folge noch weitere Beiträge zu dem Thema kommen, denn es erledigt sich nicht. Unter Umständen tut es das für Einzelne, deren Lebensumstände andere werden. Aber für uns alle als Gemeinschaft derjenigen, die in der akademischen Philosophie arbeiten, erledigt es sich nie, solange die Bedürfnisse des akademischen Arbeitens und von allem anderen, was zum Leben gehört, immer mal wieder in verschiedenen Richtungen ziehen. Das stellt uns wieder und wieder vor die Aufgabe, Vereinbarkeit möglich zu machen, damit es am Ende allen besser geht: den Philosoph:innen, denen, für die Philosoph:innen sorgen, und der Philosophie als Fach, das für Perspektiven von Menschen in allen möglichen Lebenslagen offen sein sollte.


Almut von WedelstaedtChristiana WernerChristine Bratu und Katharina Naumann sind als Philosophinnen an den Universitäten Bielefeld, Duisburg-Essen und Gießen, Göttingen und Magdeburg tätig und engagieren sich gemeinsam in der SWIP AG Vereinbarkeit.

12 Mrz

‹Führerschein› für Eltern?

Von Johannes Giesinger (Zürich)


«Wer ein Kind bekommen will, sollte erst einmal psychologisch abgeklärt werden» – so der Autor Michael Nast (Instagram-Post vom 13. Juni 2023). Er benutzt in diesem Kontext auch den Begriff des ‹Elternführerscheins›: Wer ein Kind aufziehen will, so vorher einen Eignungstest bestehen. Nast spricht von möglichen finanziellen Anreizen, die mit einem solchen Test verbunden wären: Wer ihn nicht absolvieren würde, hätte mit entsprechenden Nachteilen zu rechnen. In diese Richtung geht auch der Vorschlag Hugh LaFollettes (2023, S. 329), der allerdings in seinem ursprünglichen, vieldiskutierten Aufsatz «Licensing Parents» (1980) ein weiter gehendes Modell propagiert hatte: Nur wer über die Lizenz verfügt, soll Kinder aufziehen dürfen. Was ist von diesem radikalen Vorschlag zu halten?

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07 Mrz

Solidarität als Laster. Zum Beispiel die Nahostdebatte

Bild des Eintrags Antisemitismus im Wörterbuch

Von Tim F. Huttel (Rostock)


Wenn die Moralistin sich solidarisch zeigt, offenbart sie darin ein Laster und keine Tugend. Es steckt wenig Nobles darin, vielmehr konstruiert sie die Objekte ihrer Solidarität, weil sie ihrer bedarf. Denn in der Solidarität begibt sich die Moralistin, die selbst nicht politisch urteilen kann, in die Rolle der Helferin, in der sie auch nicht politisch urteilen muss. Eben hierin steht die Solidarität als Laster der Solidarität als Tugend, die auf unabhängigem Urteil beruht, diametral gegenüber. Den Schaden dieses Lasters trägt eine Öffentlichkeit, die um Gelegenheiten zur vernünftigen Meinungsbildung gebracht wird. Dies wird gerade im Fall der Nahostdebatte deutlich, die von Beiträgen geflutet wird, denen es allein darum geht, „sich zu positionieren“, auf der „richtigen Seite“ „Haltung zu zeigen“, während das Abwägen der Gesichtspunkte, die für die jeweiligen Position sprechen könnten, durch eben diese Bekenntnispolitik versäumt wird.

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05 Mrz

Erzwungenes Verstehbar-Machen

Von Flora Löffelmann (Wien)

„Bist du ein Mädchen oder ein Junge?“ Trans[1] oder genderqueere[2] Personen werden oft dazu aufgefordert, sich „verstehbar“ – also nachvollziehbar oder fassbar – zu machen. Dieser Beitrag beleuchtet diese erzwungene „Erklärarbeit“. Dabei steht der Machtmechanismus „rhetorisch-epistemische Unterdrückung“ (REU) im Fokus. Dieser bestimmt, dass Personen oft nur geglaubt wird, wenn sie über ihre Geschlechtsidentität auf eine ganz bestimmte Art und Weise sprechen – nämlich so, dass dies innerhalb des cisgeschlechtlichen[3] epistemischen Systems verständlich ist. Ich lege dar, wieso dies eine Form der Ungerechtigkeit ist, und welche Konsequenzen dies für das Leben von trans und genderqueeren Personen hat.  

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